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Darf man das?
Kann man noch einen weiteren Text damit beginnen, dass sich jemand auf sein Fahrrad setzt, um eilig loszuradeln?
Nun ja, da wir uns in Freiburg befinden, einem Ort, der ohne Fahrradfahrer einen Teil seiner Quintessenz einbüßen würde, lautet die Antwort ausnahmsweise einmal: ja.
Ein Radfahrer also. Um ehrlich zu sein, so eilig hatte er es auch gar nicht, als er losfuhr. Immerhin nahm er sich die Zeit, den gerade einsetzenden Sonnenuntergang auf sich wirken zu lassen. Die Straßen waren nass, es hatte den ganzen Tag geregnet, die letzten Stunden ganz besonders. Nun hatte es jedoch aufgehört und die Luft war klar und frisch.
In solchen Momenten ist Freiburg an Schönheit kaum zu übertreffen.
Man möchte am liebsten die Augen schließen und sich als Teil dieses harmonischen Ganzen fühlen.
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Der Radfahrer hat die Augen natürlich offen gehalten, die Hände beide fest am Fahrradlenker. Vermutlich sah man ihm die Entspannung an, die er unmittelbar von seiner Umgebung extrahierte. Vermutlich hätte man die folgende Aneinanderreihung an Ereignissen ebenfalls seinem Gesicht entnehmen können. Wie sich die Augen vor Schreck weiteten, als er bemerkte, dass sich wohl ein Fremdkörper in den Speichen seines Rads befand. Wie sich seine Finger um den Lenker verkrampften, als er in die Bremse trat. Es summierte sich. Der nasse Boden, die hohe Geschwindigkeit, die starken Bremsen und die Tatsache, dass der Radfahrer einen Berg herunter düste. Die Räder drehten durch, die Person spürte, wie es sie nach vorne zog. Oder nach oben? Oder nach unten? Sie hätte es gar nicht sagen können.
Dem Außenstehenden jedoch, bot sich das Bild eines sich überschlagenden Fahrrads. Der Radfahrer flog mit dem Kopf nach vorne, alle viere von sich gestreckt. Dramatisch verletzt wirkte er zunächst nicht, zumindest in der Lage, sich an den Bordstein zu kauern. Die Gliedmaßen noch alle dran, nicht verdreht, nicht verstaucht oder gebrochen. Der Gestürzte inspizierte sich selbst. Schaute hoch, blickte in die Augenpaare eines vorbeilaufenden Pärchen. Da er einen pochenden Schmerz vernahm, zog er sein T-Shirt hoch. Die Hüfte blutete ganz schön. Ein weiteres Pärchen schlenderte vorbei. Auf der anderen Straßenseite eine Frau, die gerade ihre Einkäufe aus dem Auto holte. Erst jetzt fiel dem Radfahrer auf, dass er auch Blut auf den Handflächen hatte.
Ein Wagen mit jungen Männern fuhr vorüber, wobei einer den Nacken reckte, um einen besseren Blick auf den kauernden Radfahrer zu erhaschen. Während das Auto weg rauschte, hatten die beiden kurz Augenkontakt. Vielleicht vergingen Minuten, vielleicht auch mehr Zeit, bis sich der Radfahrer schließlich aufrichtete. Mühselig duckte er sich nach dem Fahrrad, kramte sein Handy heraus und trat nach einem kurzen Telefonat den Heimweg an. Die ursprünglichen Pläne vergessen stand die Person offensichtlich unter Schock.
Ich möchte fast behaupten, dass der Schock jedoch nicht nur vom Sturz herrührte.
Ich möchte fast behaupten, dass es etwas noch Grundlegenderes gegeben hatte, das die Person verstört hat. Oder eben nicht gegeben hatte.
Genug der Anekdote? Nicht ganz.
Sagen wir, der Radfahrer hat eine Freundin, die in einer anderen Stadt lebt.
Szenenwechsel: anderer Ort, andere Person, anderer Zeitpunkt.
Es war ebenfalls abends, die Sonne war jedoch bereits untergegangen.
Die Freundin, ein junges zierliches Mädchen, kam gerade von der Kerwe. Eine Kerwe darf sich der Unwissende als eine Art Dorffest vorstellen, bei dem in der Regel nicht wenig Alkohol konsumiert wird.
Das Mädchen war zwar nicht betrunken, aber doch relativ erschöpft, als es nach Hause lief.
Auch wenn die Sinne zu dieser Uhrzeit nicht mehr unbedingt geschärft sind, hörte das Mädchen, noch bevor sie erblickte, was sich vor ihr in der Dunkelheit befand. Halb auf dem Gehsteig, halb auf der Straße lag ein Mann. Seine Körperhaltung war seltsam verdreht und mit seinen circa zwei Metern Körpergröße hätte er das zierliche Mädchen deutlich überragt, wenn er denn zu stehen imstande gewesen wäre. Er ächzte vor sich hin. Oder schnarchte er? Angesichts der räumlichen Nähe zur Kerwe ist es nicht unwahrscheinlich, dass er einiges an Alkohol intus hatte. Er war jedenfalls nicht ansprechbar. Das Mädchen war überfordert. Was, wenn der Mann aufwacht und womöglich gewaltsam ist? Sie stand alleine da. Ratlosigkeit. Dann richtete sie sich auf. Ihr war klar, diesem Mann geht es nicht gut, er ist nicht in der Lage, sich selbst zu helfen. Also telefonierte sie mit den Notärzten und blieb so lange neben dem Mann sitzen, bis die Fachkräfte eintrafen. Dem Mann konnte geholfen werden. Mit dem Eintreffen der Notärzte verschob sich die Zuständigkeit und das Mädchen konnte endlich ihren Heimweg fortsetzen.
Die zweite Geschichte zeichnet etwas aus, das ganz ganz offensichtlich in ersterer fehlt. Hierbei sei angemerkt, dass es sich bei beiden Geschichten um wahre Begebenheiten handelt.
Das, was den Radfahrer so schockiert hatte, waren die Passanten die wort- und teilnahmslos an ihm vorbei gingen. Es waren einige. Das höchste der Gefühle war allenfalls ein Hauch Schaulustigkeit, bei dem jungen Mann, der aus dem Wagen geblickt hatte.
Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass Menschen so wenig Empathie aufweisen?
In der Psychologie versteht man Empathie als eine sekundäre Emotion, die von primären Emotionen (angeborenen Basisemotionen) zu unterscheiden ist.
Zu Basisemotionen gehören beispielsweise Ekel, Freude, Überraschung und Angst. Sie vereint, dass der Gesichtsausdruck, der die Emotion widerspiegelt, in allen Kulturen gleich ist.
Sekundäre Emotionen hingegen sind komplexer. Sie werden im Laufe des Lebens erlernt und unterliegen sozialen und kulturellen Einflüssen. Für sie ist zumindest ein rudimentäres Konzept des eigenen Selbst und damit einhergehend eine explizite Trennung zwischen Selbst und anderen Person erforderlich. Das ist nicht zuletzt deshalb wichtig, da sich diese Emotionen auf die Beziehung einer Person zu ihrer sozialen Umwelt beziehen.
Sekundäre Emotionen unterscheiden sich somit sehr stark von Kultur zu Kultur und werden in ihrer Ausprägung auch durch Erziehung determiniert.
Beispiele hierfür wären Verlegenheit, Stolz, Schuld, Scham und Empathie.
Darf man sich also beschweren, wenn Menschen eine Fähigkeit fehlt, die sie erst erlernen müssen?
Ich finde schon. Meiner Meinung nach macht Empathie einen wesentlichen Teil von dem aus, was wir allgemein unter Menschlichkeit verstehen.
Für mich ist ein Mangel an Empathie gleichzusetzen mit Charakterschwäche.
Es ist allerdings auch ein Mangel, der einem immer häufiger begegnet, in einer individualistischen Gesellschaft, in der die Menschen zunehmend mit sich selbst beschäftigt sind.
Menschen werden mit einer unglaublichen Flut an Informationen und Reizen konfrontiert. Viel zu verarbeiten. Manchmal zu viel zu verarbeiten.
Ganz besonders betroffen sind die Mitglieder des Gesundheitssystems.
Ich habe bei meinen Pflegepraktika erlebt, wie Pfleger von ihrer Arbeit sukzessive abgebrüht und abgestumpft werden.
Teilweise mehr als verständlich. Man kann eben nicht alles an sich heranlassen, wenn man Tag für Tag einer Tätigkeit nachgeht, die sehr viel mit dem Behandeln von Problemen zu tun hat. Patienten in emotionalen Ausnahmezuständen sowie viel Leid seitens der Betroffenen und Angehörigen, machen es notwendig, dass man eine Unterscheidung in dein Leid und mein Leid vornimmt.
Versäumt man es diese Grenze zu ziehen, so erhöht sich die Gefahr, einen Burnout zu erleiden, um ein vielfaches.
Es ist ein kein Geheimnis, dass Mitglieder des Gesundheitssystems sowieso schon zur Gruppe der Gefährdeten gehören. Kritisch. Es ist nicht einfach. Selbst als Praktikantin habe ich gemerkt, dass man, gerade bei Patienten mit längeren Aufenthalten, ein Stück weit Teil ihres Lebens wird. Man hat Anteil an ihrem verschobenen Alltag. Im Gegenzug machen sie allerdings auch einen Teil des eigenen Lebens aus. Manche Patienten verschwinden nicht direkt mit dem Verlassen der Klinik. Manche Schicksale beschäftigen einen auch nach Schichtende noch.
Die Gefahr, die Probleme anderer zu inkorporieren, zu den eigenen zu machen, scheint mir durchaus gegeben.
Unabhängig davon, wie nah man die Probleme auf emotionaler Ebene an sich heranlässt, auf der Handlungsebene sehe ich eine klare Tendenz.
Junge Ärzte und werdende Ärzte sind wie Moleküle in einem heißen Topf. Voller Handlungsdrang. Sie wollen die erlernten Fähigkeiten auf die Probe stellen, angeeignetes Wissen anwenden. Umso mehr sie lernen, umso stärker schwingen sie.
Ich habe häufig einen Hauch dieser Neigung bei Menschen aufgeschnappt, die gerade ihren Erste-Hilfe-Kurs absolviert haben. Auch wenn sie diesen nicht für die Ausübung einer medizinischen Tätigkeit, sondern für den Führerschein machten. Man geht aus dem Kurs heraus und kann das Gefühl fast greifen. ,,Ich kann jetzt helfen”. Es ist sicherlich auch ein Gefühl der Macht. Vor allem aber, ist es ein schönes Gefühl.
Für mich persönlich gehört die Frage, wie viel Empathie, wie viel Hilfsbereitschaft, ich zeigen möchte unmittelbar zu der Frage dazu, welche Art von Ärztin ich später einmal werden möchte. Es gibt Situationen, da ist es fast schon lästig, wie nah einem das Schicksale anderer gehen kann. Manchmal erscheint es schlichtweg einfacher, gefühlskalt zu agieren.
Ich kenne das, denn ich gehöre zu den Menschen, die gelegentlich einen gewissen Weltschmerz empfinden. Unpraktisch, da es nun wirklich nicht zu wenig Leid auf dieser Welt gibt.
Zu viel, um Atlas spielen zu können. Zu viel, um die Himmelskugel zu schultern, dafür verantwortlich zu sein, den Himmel hochzuhalten.
Dennoch. Ich komme nicht umhin, jedes Mal etwas zu erschrecken, wenn ich Gefühlskälte und Gleichgültigkeit erlebe.
Wir lernen Empathie im Medizinstudium als einen wesentlichen Bestandteil des Anamnesegesprächs, als einen Eckpfeiler der Arzt-Patienten-Beziehung kennen. Medizinstudentin hin oder her, zu einem distanzierten unterkühlten Arzt würde ich auch nicht gehen wollen.
Ich erschrecke also bei Empathielosigkeit. Ich erschrecke, wenn eine Patientin vor mir in Tränen ausbricht und die Pflegerin roboterhaft und teilnahmslos ein schmutziges Handtuch nimmt, um den Raum zu verlassen.
Ich erschrecke nicht weniger, als es der Radfahrer getan hat.
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Anmerkungen zu den Personen aus der Einleitung:
Das Mädchen begann wenige Zeit nach dem Vorfall eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin. Nachdem sie ein Jahr als ,,Rettungssani” gearbeitet hatte, ging sie ins Ausland, um Medizin zu studieren. Heute befindet sie sich im 4. Semester und muss herzlich darüber lachen, wenn sie davon erzählt, wie sie an besagtem Abend mit dem Notarzt telefoniert hat. ,,Das beste war, als sie mich gefragt haben, ob der Betroffene noch atmet. Ich war total überfordert. Ist ja nicht so, als hätte der Kerl unglaublich laut geschnarcht. Mensch, da habe ich mich schon weiterentwickelt, seitdem.”
Bei dem Radfahrer handelt es sich um einen Freiburger Medizinstudierenden im dritten Semester. Er erinnert sich, wie er bei seinem Sturz, unmittelbar vor dem Aufprall, dachte: ,,Nicht meine Hände. Die müssen heil bleiben, wenn ich Chirurg werden will.”
Ungewöhnlich was einem in solchen Momenten durch den Kopf geht.
Autorin:
Audrey
Coucou, mein Name ist Audrey und ich bin eine aufgeweckte Medizinstudentin aus Freiburg!
Derzeit befinde ich mich ich im vierten Fachsemester Humanmedizin der Albert-Ludwigs-Universität. Ich bin unternehmungslustig, neugierig und nehme mich selbst meistens nicht allzu ernst. Hier schreibe ich ehrlich und ungeschönt über das Medizinstudium, das Studentenleben und so manches anderes.
Mach dir doch einfach dein eigenes Bild. Bis dann!
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