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Everything that it takes
Die behandschuhten Hände, T-Rex-artig auf Brusthöhe angehoben, stehen wir da.
Es ist ganz schön kühl, wenn die Handschuhe erstmal mit Flüssigkeit in Kontakt waren.
Wir haben Schutzbrillen auf und tragen weiße Mäntel. Der Professor spricht zu uns.
Kreuzverhör. Jeder muss der Reihe nach einen Adductor sagen, Ansatz, Ursprung, Innervation. Unserer Nervosität ist wenig dienlich, dass der Prof nicht abwartet, sondern seine Fragen selbst beantwortet, wenn man nicht schnell genug ist.
Ein Kommilitone neben mir zögert einen Moment zu lange. Der Professor zeigt auf ihn und verlautet ,,Du bist durchgefallen, haha.” Er lacht. Natürlich nur ein Scherz.
Doch außer ihm lacht niemand. Ich bekomme das Grauen.
Als er später den Tisch verlässt, wendet sich der Kommilitone an mich. Er sagt, er hätte am liebsten losgeheult. Ich kann es nachfühlen. Nur zu gut. Mir geht es in letzter Zeit auch sehr oft so.
Ein klein wenig bin ich überrascht, als mir meine Freundin von diesem Erlebnis berichtet. Es ist bemerkenswert, schließlich ist sie jemand, der sich von so gut wie nichts aus der Ruhe bringen lässt. Von uns beiden ist sie eindeutig die Coolere und Entspanntere.
Anderseits. Die Rede ist hier schließlich vom Präparierkurs. Da herrschen andere Verhältnisse.
Der Präpkurs also. Eigentlich eine tolle Sache.
Wenn er nicht mit so viel Leistungsdruck verbunden wäre.
Wenn man uns nicht so viel abverlangen würde.
Wenn man nicht jedes Mal von uns erwarten würde, dass wir bereits alles wüssten.
,,Ich weiß das noch nicht.” 5 Worte die niemand auszusprechen wagt. Schwäche wird nicht toleriert. Und das obwohl wir den Kurs noch keine zwei Wochen haben.
Nicht wenige Studierende häufen gerade eine Menge Frustration an.
Ich selbst empfinde eine abwechselnde Mischung aus Verzweiflung, Hilflosigkeit und Wut. Wut, weil ich nicht verstehe, weshalb man diesen Kurs so gestalten muss.
Ich präpariere die Leiche und schäme mich, wenn ich einen Nerven falsch benenne.
In der zweiten Stunde hatte mich der Dozent ausgefragt und ich hatte mich vertan.
Im Nachhinein denke ich darüber nach und neben meinen Selbstzweifeln kommt Verständnislosigkeit auf. Verständnislosigkeit für dieses System.
Schließlich hatte ich davor noch nie in einer Leiche herumgepult. Schließlich hatte ich davor noch nie einen Nerven in der Hand gehalten. Schließlich fand ich mich auch erst noch zurecht.
Doch der Anfang ist vergleichsweise angenehm gewesen, wenn man betrachtet, wo wir gerade stehen.
In einer Woche haben wir unser erstes Testat. Die Aufregung könnte nicht größer sein. Wenn ich zu viel davon zulasse, wird mir übel.
Wie sieht er bei uns aus, der Präpkurs?
In den Präpariersälen finden sich Zahnmediziner, Molis und Humanmediziner aus dem dritten und fünften Semester ein.
Es gibt einen oberen und unteren Saal mit etwa 20 Tischen. An jedem Tisch befindet sich eine Leiche, ein Körperspender.
Die Studierenden sind in zwei Kohorten aufgeteilt, wobei Kohorte A am Montag präppt und Kohorte B am Dienstag. Mittwochs kommt dann Kohorte A wieder usw..
Für jeden Kurstag gibt es eine Checkliste, an Dingen die man wissen sollte. Zusätzlich ist man immer Spezialist für eine gewisse Körperregion, z.B. Regio cruris posterior. Das bedeutet, dass man an diesem Kurstag wissen muss, welche Präparationsanleitung das Skript für diese Region vorsieht, welche Strukturen man zu erwarten hat und welche Besonderheiten es bei dieser Region zu beachten gibt.
Bevor man mit dem Präppen beginnt und nachdem man gepräppt hat, stellt man seine Region in der Gruppe vor. Man sollte in der Lage sein, alle Fragen zu beantworten, die einem Hiwi und Dozent dazu stellen.
Am nächsten Kurstag ist man schon an der nächsten Region.
An den Kurstagen, an denen man nicht im Präpsaal ist, befindet man sich meist im Labor oder im (Physiologie-)Hörsaal. Toll ist, dass die andere Kohorte dann an der Leiche des Tisches weiterarbeitet. Toll ist, dass man auch deren Checkliste beherrschen sollte.
Obertoll ist, dass man teilweise absolut nicht mehr denkfähig ist, wenn man nach einem langen Tag im Präpsaal nach Hause kommt. Man hört sie vermutlich heraus, die Frustration.
Man arbeitet immer zwei bis drei Wochen an einem Modul (z.B. Rumpf, obere und untere Extremität, …). Nach jedem Modul wird man von dem eigenen Dozenten in einer mündlichen Prüfung eingeschätzt. Ein Dozent betreut in der Regel jeweils ein bis zwei Tische pro Kohorte.
Das heißt, es ist reine Glückssache, an welchen Prüfer man gerät.
Das heißt, manche Studenten haben mehr Druck, als es andere haben.
Das heißt, die Leistungseinschätzung büßt meiner Meinung nach einen gehörigen Teil ihrer Objektivität ein.
Ich finde das schade, da dies bisher immer eine Sache war, die ich am Medizinstudium geschätzt habe : Die Leistungen werden objektiv und für alle gleich bewertet.
Doch wie gesagt, Einheitlichkeit findet man hier keine mehr.
Anstrengend war, dass wir nach der vorlesungsfreien Zeit direkt in das nächste Semester katapultiert wurden, ohne Zeit zur Reflektion zu haben.
Uns hat ein Student aus dem 7. Semester berichtet, wie sich das bei seiner Freundin geäußert hat.
Sie hätten im Präparierkurs die untere Extremität bearbeitet und die Fußsohle auspräpariert, erklärte er. Ich nickte, das habe ich auch schon gemacht.
Die gemeinen Abduktoren von der Sehne und Aponeurose lösen, ohne ein Gemetzel zu veranstalten. Nervige Fitzelarbeit.
Er erzählte, wie es seine Freundin plötzlich gepackt hätte, abends auf dem Nachhauseweg. Noch während sie auf dem Fahrrad saß, liefen ihr die Tränen über das Gesicht.
Plötzlich realisierte sie, was sie den Tag über getan hatte.
Plötzlich hatte sie Gelegenheit, darüber nachzudenken.
Ich verstehe absolut, wovon er spricht. Ich habe mich häufig mit Kommilitonen darüber unterhalten, dass es uns an Möglichkeit fehlt, das was wir tun emotional einzuordnen.
Wenn ich so darüber nachdenke, ist es doch durchaus befremdlich.
Erst gestern habe ich mich mehrere Stunden auf dem Gesicht eines toten Mannes abgestützt, um die Vena cephalica im Sulcus deltoideopectoralis darzustellen. Entnervt hatte ich versucht, die Fascia clavipectoralis von der Brust zu lösen, ohne die Muskelfasern des darunterliegenden Musculus pectoralis major zu zerfetzen.
Der Hiwi meinte zu einer Studentin neben mir:
,,Also, wenn du nichts mehr zu tun hast, dann holst du dir jetzt einen Atlas und schlägst die Mamma nach. Wenn du sie bestimmt hast, dann holen wir sie rüber, ja?”
Ich blickte den Hiwi ratlos an, die Leiche zwischen uns. ,,Wie meinst du? Wir holen sie rüber? “
,,Ja von dem Nachbartisch.”
Ich blickte ihn weiter entgeistert an. Dann lachte ich. Er musste auch ein wenig schmunzeln. Ich schüttelte den Kopf und widmete mich wieder meinem Gewebe.
,,Nach diesem Semester bin ich nicht mehr gesellschaftsfähig.”
Meine Kommilitonen mussten lachen.
Doch am Nebentisch schwamm tatsächlich die Mamma in einer mit Flüssigkeit befüllten Schale. Was soll ich sagen.
Später half uns der Hiwi eine Struktur frei zu legen. Er legte die Instrumente beiseite und trennte sie mit bloßen Händen ab, nur die Handschuhe zwischen sich und dem Körperspender.
,,Ich weiß, das sieht gerade etwas unorthodox aus, wie ich das mache. Aber so geht es ganz gut.”
Ich zuckte mit der Schulter und erwiderte:
,,Ich wüsste jetzt nicht, was von dem ganzen hier normal aussehen sollte.”
Wieder erntete ich Lachen von meinen Kommilitonen.
Um ehrlich zu sein, derzeit habe ich nicht das Gefühl, das leisten zu können, was ich gerne leisten würde. Ich überflute mein Gehirn mit einer geballten Informationswucht, doch mein Gedächtnis kommt teilweise einfach nicht hinterher.
Der Hiwi fragt mich vor versammelter Mannschaft, welche Strukturen ich nun in der Tiefe der Fossa infraclavicularis erwarten würde und ich sage, ,,Arteria thoracoepigastrica”, obwohl es doch offensichtlich die ,,Arteria thoracoacromialis” ist. Einerseits ist es meiner Meinung nach mehr als verständlich, dass einem sowas passiert. Andererseits zermürbt es mich.
Das erste mündliche Testat steht an. Ich frage mich, wie ich es bis dahin schaffen soll, alles aufzuarbeiten, wenn jeden Tag aufs Neue etwas an unserem Körperspender geschieht.
Es geht weiter.
Mit dem Pensum ist es wie mit einem Teppich, den man vor sich herschiebt.
Sobald er erstmal Falten aufwirft, werden diese immer größer. Die Falten türmen sich vor einem auf. Falten voller Selbstzweifel und Frustration.
Wir Studenten fahren die großen Geschütze auf. Atlanten werden angeschafft. Genauso wie Lernplakate, anatomische Lerntafeln, Lernkarten, Bücher mit Eselsbrücken und Lehrsprüchen. Mit was sollte man am besten lernen? Akute Orientierungsphase. Erst gestern habe ich mir von meiner Freundin den Zugang zu einem speziellen Lernprogramm geben lassen, bei dem man mittels Bildern und irren Geschichten anatomische Strukturen lernen soll.
Ich weiß nicht, ob mir das was bringt. Viele Studenten nutzen Eselsbrücken. Ich finde viele dieser Eselsbrücken jedoch so umständlich, dass ich vermutlich eine Eselsbrücke für die Eselsbrücken bräuchte.
Erst neulich habe ich mir mit Lippenstift die Schilddrüse aufmalen lassen. Ich selbst habe meine Füße bemalt. Der ganze Kurs hatte wegen einem Exkurs bemalte Knie.
Man nimmt, was man bekommen kann. Hauptsache, man prägt es sich ein.
Hinzu kommt, dass einige von uns gerade rumkränkeln. Mich eingeschlossen. Es beginnt einfach die Grippesaison. Mit Gliederschmerzen und etwas Schnupfen ist der Präpsaal als Aufenthaltsort jedoch wirklich unattraktiv.
Was will man machen. Man muss halt dranbleiben.
Einige verschieben den Präpkurs und machen ihn erst ein Jahr später. Sie konzentrieren sich auf Physio und Biochemie. Verständlich. Ich spiele jeden Tag mit dem Gedanken. Doch so beruhigend es auch sein mag einen Plan B zu haben, ich habe einfach nicht den Mut dazu.
Ich müsste mein Staatsexam um ein Jahr nach hinten verschieben. Das traue ich mich nicht. Ein Umstand der auch irgendwie nervig ist.
Schließlich bin ich noch 20 Jahre alt, wenn ich mein Staatsexam mache.
Schließlich ist die Regelstudienzeit nichts heiliges, das unbedingt eingehalten werden muss. Schließlich hätte ich dann ein Jahr mehr Zeit, den Stoff aus den letzten Semestern zu wiederholen.
Vielleicht hätte ich dann die Chance, ein richtig gutes Physikum zu machen.
Hmm.
Die Entscheidung, ob man den Präparierkurs schieben möchte, muss bis zum ersten Testat gefallen sein.
So lange haben wir uns Zeit gegeben. Bis dahin lernen wir und unterstützen uns gegenseitig auf jede erdenkliche Weise.
,,Wir halten erstmal durch. Wir packen das gemeinsam, Deal? Wir erklären uns das einfach mit unseren eigenen Worten.”
Nur eine von den viele Motivationsreden, die wir uns gegenseitig gehalten haben.
Auch meine Freunde aus den höheren Semestern sprechen uns Mut zu.
,,Haltet durch, ihr schafft das!”
,,Gebt nicht auf, lasst sie nicht gewinnen!”
Das klingt nach einer Kampfansage.
Aber gut. Dann sei es so.
Dann geben wir mal wieder unser Bestes.
Mal sehen, ob es reichen wird.
Autorin:
Audrey
Coucou, mein Name ist Audrey und ich bin eine aufgeweckte Medizinstudentin aus Freiburg!
Derzeit befinde ich mich ich im vierten Fachsemester Humanmedizin der Albert-Ludwigs-Universität. Ich bin unternehmungslustig, neugierig und nehme mich selbst meistens nicht allzu ernst. Hier schreibe ich ehrlich und ungeschönt über das Medizinstudium, das Studentenleben und so manches anderes.
Mach dir doch einfach dein eigenes Bild. Bis dann!
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