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Biochemie-Klausur: Kein Einlass
Was bei einer Klausur zu Corona-Zeiten alles schief gehen kann, zeigt uns der Bericht eines Kommilitonen
Ich checke mein Handy. Eine Nachricht leuchtet auf dem Display auf.
,,Okay machen wir den Buddy-Check: FFP2-Maske, Wasser, Tempos, Handy aufgeladen für den QR-Code, deine blaue Biochemie-Kurskarte, Ausweis oder Lichtbildnachweis?”
Eine weitere Nachricht. ,,Oh und Studienkarte.”
Ich antworte: ,,Ja hab alles. Du?”
Ich werfe einen Blick auf meinen Rucksack direkt neben der schrill-grünen Jacke an der Tür. Mein Blick verweilt etwas auf dem Kleidungsstück. Es ist ein wirklich schrilles Grün.
Immer, wenn mein Stresslevel steigt und ich merke, dass es mir weniger gut geht, dann changiert mein Kleidungsstil farbtechnisch ins Schrille. Es ist faszinierend, welche unbewussten Ausdrucksweisen Menschen diesbezüglich aufweisen. Ich habe eine Freundin, die muss dann immer ihre Stiefel tragen. ,,Wenn ich die trage, habe ich die Kontrolle. Dann stiefele ich durch die Gegend und trete alles nieder, was mich klein machen will.”, sagt sie von sich. Bei einer anderen Freundin kann man das Stresslevel immer an der Farbe der Nägel erkennen. Umso näher die Prüfung rückt, umso dunkler werden sie. Beides Tendenzen, die man im Krankenhaus wohl weniger ausleben kann. Schließlich herrscht dort aus Hygiene- und Sicherheitsgründen ein Gebot für flaches Schuhwerk und unlackierte Nägel. Eine weitere Freundin knibbelt immer an den Rändern ihrer Fingernägel herum. Es sind Kleinigkeiten, die erst auffallen, wenn man viel Zeit miteinander verbringt. Aber das Medizinstudium schweißt zusammen. In seinen belastenden Episoden mehr denn je.
Also schnappe ich mir Rucksack, Kopfhörer, Jacke und Schlüssel.
Einmal auf das Fahrrad geschwungen, auf geht’s ins Institutsviertel.
Gleich steht die Biochemieklausur an. Während ich den altbekannten Weg entlang radle, denke ich darüber nach, wie unvorbereitet ich mich fühle. Heute sind die Schuldgefühle besonders groß. Ich hätte wirklich mehr machen können. Bei weitem. Andererseits ist es die letzte Klausur, die zwischen mir und den Semesterferien steht. Es war ein verdammt hartes Semester. Die Studierenden sind alle ausgelaugt. Man konnte im Laufe des Semesters beobachten, wie die Augenringe immer tiefer wurden. Wir haben alle alles gegeben. Wir haben uns echt gut geschlagen. Aber nach dem vierten Anatomietestat in einer Woche die komplette Biochemie zu lernen, das ist schon eine Frage davon, wie kaputt man sich noch machen möchte, am Semesterende. Also habe ich mir in letzter Zeit ab und zu mehr Pausen gegönnt. Ich war Tennisspielen und Wandern. Oder ich habe mich auf die Arbeit konzentriert, derer ich neben dem Studium noch nachgehe.
Dennoch, die Schuldgefühle sind da. Obwohl ich auch weiß, dass in der Biochemieklausur teilweise viele Details erfragt werden, die meiner Meinung nach über das biochemische Grundverständnis hinausgehen. Also kann man sich durchaus überlegen, ob es bei diesen Fragen nicht einfach nur total willkürlich ist, ob und wie intensiv man sich mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Denn selbst wenn man eine Signalkaskade oder die Wirkungsweise eines gewissen Proteins verstanden hat, so kennt man doch nicht jeden spezifischen Subtyp davon. Detailwissen eben.
Ich erreiche das Institutsviertel und schließe mein Fahrrad an. Es sind schon ordentlich Leute vor dem Vorlesungsgebäude versammelt. Ich erkenne die Menschen schon von weitem, die eine ähnliche Studiennummer wie ich haben und deshalb Teil meiner Kleingruppe sind.
Ein Freund winkt mir. Ich stelle mich zu ihm. Wir quatschen. Ich krame in meinem Rucksack und überreiche ihm einen kleinen weißen Würfel. Er hatte den Entschluss gefasst, dass er der Willkür der Fragen mit ebenso viel Willkür begegnen möchte. ,,Einmal möchte ich bei einer Klausur des Medizinstudiums von mir sagen können, dass ich mir die Lösungen erwürfelt habe.”
Ich habe auch einen. Vielleicht würfele ich auch, wenn ich gar nicht mehr weiter wissen sollte.
Ich blicke erneut auf das Handy. ,,Also bis später. Viel Erfolg/Glück/Improvisationsgeschick euch.”, schreibt eine Freundin.
Dann schalte ich das Handy aus. Schließlich möchte ich ab jetzt versuchen, mich auf die anstehende Prüfung zu konzentrieren.
Es ist der genaue Zeitpunkt, an dem alles anfing, schief zu gehen. Dieser Moment ist so greifbar, es ist als könnte ich ihn mit den Händen umfassen.
Die Tür des Gebäudes geht auf und ein kleiner stämmiger Mann bittet herein.
Alle kramen aufgeregt in ihren Taschen. Blau-aufblitzende Kurskarten hier und da. Ich stehe ganz hinten in der Schlange.
Am Einlass wird der Impfnachweis kontrolliert.
Mir wird kalt und heiß gleichzeitig. Wir brauchen den QR-Code. Ich kann den PIN meines Handys nicht.
Vollends von der Nervosität ergriffen gebe ich zweimal einen falschen PIN ein. Ich stehe vor dem Mann, der den Code scannen möchte. Ich stehe da, mit nur noch einem Versuch, bevor mein Handy endgültig gesperrt ist.
Ich erkläre dem Mann meine Problematik. Er mustert mich kritisch. Aus seinem Blick weicht keine Härte. Er pocht darauf, dass er den QR-Code bräuchte. In meiner Hilflosigkeit wedle ich mit der blauen Kurskarte herum. ,,Sehen Sie die bestandenen Laborpraktikas? Ich hätte da doch gar nicht rein gedurft ohne den Nachweis. Das war doch vor Tagen erst.”
Er zuckt nicht mit der Wimper.
Ich werde später mit Kommilitoninnen darüber reden. ,,Wenn ich kein 1m90 Kerl wäre, der aussieht, als ob er sein Zeug beisammen hätte….Wenn ich vielleicht ein kleines junges Mädel wäre, das in so einer Situation anfängt zu heulen, dann hätte der sicher anders reagiert. Ich war so aufgelöst. Ich hätte in dem Moment schon echt gut losheulen können.”
Ich stehe da und raufe mir die Haare. ,,Ich kann ja direkt nach der Klausur nach Hause radeln und wenn ich Ihnen den Nachweis nicht innerhalb einer halben Stunde bringe, dann können Sie meinen Prüfungsbogen meinetwegen verbrennen und die Punkte nicht werten.“
Der Mann weicht nicht von seiner Starrheit ab.
Niemand steht mehr vor dem Gebäude. Meine Leute sitzen alle im Saal. Ich bin alleine mit dem Mann. Er müsse mit dem Professor telefonieren, sagt dieser schließlich.
In dem Telefonat skizziert er die Situation. Erklärt, dass mein Handy nicht funktioniere.
Ich stehe da und schweige. Ich fühle mich hilflos und leide still vor mich hin.
Schließlich erfahre ich, dass ich die Chance bekomme, nach Hause zu fahren und meinen Nachweis zu holen. Wenn ich mich beeile, so heißt es, dann wartet jemand bei einem anderen Gebäude auf mich.
Adrenalin rauscht durch meinen Körper, als ich nach Hause radle. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie ich jetzt noch einen Unfall baue und deshalb nicht an der Klausur teilnehmen kann. Daheim schnappe ich mir meinen PIN-Code und entsperre mein Handy. Bling. Blau, schwarz und weiß leuchtet der QR-Code auf. Uff. Dann setze ich mich wieder auf’s Rad. Ich baue keinen Unfall. Weder auf dem Hin- noch auf dem Rückweg.
Trotzdem hätte nicht mehr viel gefehlt und ich wäre tatsächlich in Tränen ausgebrochen.
Ich erreiche besagtes Gebäude. Jemand erwartet mich. Ich zeige ihm den Nachweis und folge ihm in das Innere. Es ist ein winziger Lesesaal. Ich bin alleine mit der Aufsicht. Dennoch liest diese seelenruhig alle Hinweise zur Klausur durch. Auch die ganzen Extrahinweise die besagen, dass jemand, der während der Klausur Symptome zeige, mit Maske bewaffnet umgehend den Raum verlassen müsse.
Dann beginnt meine Prüfung.
Den kleinen weißen Würfel im Rucksack packe ich nicht aus. Nicht weit entfernt von meinem Gebäude sitzt zu diesem Zeitpunkt ein Kommilitone mit seinem Würfel. Später werde ich erfahren, dass er tatsächlich gewürfelt hat.
Nach 20 min bin ich mit meiner Prüfung fertig. Unter den aufmerksamen Augen der Aufsicht blättere ich noch ein bisschen in dem Prüfungsbogen herum. 45 min Bearbeitungszeit haben wir eigentlich. Als ich nach weniger als 40 min frage, ob ich bereits abgeben könne, zeigt sich die Aufsicht überrascht. ,,Sind Sie sicher, Sie haben noch Zeit?”
Ich gebe ab.
Eine halbe Stunde später schaue ich wieder auf mein Handydisplay. ,,Ich komme erst jetzt nach Hause. Ihr glaubt nicht, was gerade passiert ist.”, tippe ich. ,,Ich muss jetzt erstmal was essen, bevor wir was unternehmen.”
Ich bin erledigt von der ganzen Aufregung. Und unterzuckert. Ich habe heute noch nichts gegessen.
Eine weitere Stunde später haben wir bereits unsere Klausurergebnisse. Das muss man den Biochemie-Korrekteuren wirklich hoch anrechnen, wie rasant schnell sie da waren.
Der Biochemie-Schein setzt sich aus verschiedenen Aspekten zusammen. Zum einen das zweisemestrige Praktikum, bei dem man nicht mehr als zweimal in der Summe durchfallen darf und immer anwesend sein muss. Zum anderen zwei Teilklausuren. Bei beiden muss man eine Mindestpunktzahl erreichen (5 von 25), in der Summe muss man allerdings 30 Punkte mindestens erreichen.
Wir haben festgestellt, dass es durchaus realitätsfern wäre, zu vermuten, dass man in der zweiten Klausur 100 Prozent erreichen könnte. Also war das ziel ganz klar: Mehr als 5 Punkte bekommen, alles ab 10 Punkte ist akzeptabel.
Als ich in der Liste nachlese erkenne ich, dass ich genau 10 Punkte habe. Ich freue mich zunächst. Später dann werde ich anfangen, mich zu fragen, ob ich nicht mehr Punkte hätte bekommen können, wenn ich mehr dafür getan hätte.
Als ich das Haus verlasse, um zu meinen Freunden zu fahren, die ebenfalls alle bestanden haben, da ergreift mich zum ersten Mal diesen Tages ein Gefühl der Leichtigkeit.
Jetzt ist das dritte Semester rum. Es war gegen Ende nur noch eine Tortur, was will man sagen. Dennoch: durchgehalten, durchgestanden, bestanden.
Autorin:
Audrey
Coucou, mein Name ist Audrey und ich bin eine aufgeweckte Medizinstudentin aus Freiburg!
Derzeit befinde ich mich ich im vierten Fachsemester Humanmedizin der Albert-Ludwigs-Universität. Ich bin unternehmungslustig, neugierig und nehme mich selbst meistens nicht allzu ernst. Hier schreibe ich ehrlich und ungeschönt über das Medizinstudium, das Studentenleben und so manches anderes.
Mach dir doch einfach dein eigenes Bild. Bis dann!
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