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Humanmedizinstudenten spielen ein Videospiel

Modul 4 und Semesterende: eine Reflektion Teil 3

Ich pflege zu sagen ,,Das dritte Semester ist wie ein Videospiel.”

Meine Freunde lächeln immer, wenn ich diesen Vergleich bringe. Zum einen, weil ich ihn so häufig bringe. Zum anderen, weil er so passend ist.

Im Prinzip kann man sich die einzelnen Fächer wie einzelne Welten eines großen Spiels vorstellen. Jede Welt hat ihre ganz eigenen Herausforderungen, Gefahren und Endgegner. 

Man meistert verschiedene Level, um voranzukommen. Wenn man ein Level besteht, dann wird automatisch das nächste freigeschaltet. Dass man das Level erfolgreich bestanden hat, dann versäumt man häufig, das zu schätzen, schließlich ist es auch nur ein kurzer Moment des Erfolgs, abgelöst von dem Kampf, der sich als nächstes anbahnt.

Anatomie, zum Beispiel. Es geht los mit dem schriftlichen Eingangstestat. Bestanden? Dann geht’s weiter. Präparierkurs. Abfragen. Erstes Testat. Weiter. Bestanden? Toll. Weiter geht’s. Präparierkurs. Abfragen. Zweites Testat. Bestanden? Toll. Nicht-bestanden? Uff, bitter. Jetzt darf man noch bei einem weiteren Testat durchfallen. Klingt nicht so wild. Doch man muss sich auch vergegenwärtigen, dass es jedes Mal auf’s Neue das reinste Glücksspiel ist, welchem Dozenten bzw. Prüfer man zugewiesen ist. Diese Ungewissheit, die spornt durchaus an, mit den verbleibenden Leben sorgfältig zu spielen. Ich kenne Leute, die einmal und sogar welche, die zweimal durchgefallen sind. Teilweise aus banalen Gründen, wie ,,Konnte nicht die genaue Projektion von Organen auf den Körper aufsagen.” oder ,,Kannte die Entwicklung eines Gefäßsystems nicht.”

Andere sind der Laune von Dozenten zum Opfer gefallen. Wenn der Prüfer einen besonders schlechten Tag hatte, dann heißt das, der Endgegner wirft heute mit besonders vielen Granaten.

Ich habe mal zufällig eine Kommilitonin in einem Café getroffen, die hat mich aus dem Leichensaal erkannt. Ich konnte mich nicht erinnern, sie jemals zuvor gesehen zu haben. Sie meinte jedoch, mich eine Stunde zuvor noch am gegenüberliegenden Tisch gesehen zu haben. Wir unterhielten uns. Sie erzählte mir davon, wie sehr sie die Erfahrung des letzten Testats mitgenommen hatte. Sie waren im Team geprüft worden. Sie war die einzige, die bestanden hatte. Der Prüfer war so kühl und eisern gewesen, dass eine Studentin aus ihrer Gruppe im Saal zu heulen angefangen hatte. 

Ich war etwas fassungslos. Später unterhielt ich mich mit meinen Freunden darüber.

Ich gab zu, dass ich mich gelegentlich fragte, ob es den Dozenten egal sei, was sowas mit den Studierenden macht. Die Mehrheit meiner Freunde verneinte. Dennoch, manchmal habe ich das Gefühl, man macht das Spiel teilweise auch unnötig hart. Und ich habe den Eindruck, dass doch alles mit sehr viel Akzeptanz verbunden ist. Das Spiel ist hart. Spiel es oder lass es. Aber sei dir im klaren, dass es hart ist. Ich frage mich manchmal auch, ob man manche Dinge nicht anders handhaben könnte. Wir Studierenden, wir geben unser Bestes. Wir optimieren unser Lernverhalten. Wir sind bereit Freizeit, Schlaf und Nerven zu opfern, um unsere Leistung zu optimieren. Doch ich wage zumindest den Gedanken auszusprechen, dass das Studium auch optimiert werden könnte. Es ist in mancherlei Hinsicht auch nicht ,,The yellow from the egg.”, wie ein Kommilitone zu sagen pflegt.

Interessanterweise fragte mich einen Tag nach dem Gespräch mit der Kommilitonin ein Bekannter nach demselben Prüfer. Er studiert zwar selbst nicht Medizin, aber seine Mitbewohner. Ich erfuhr, dass der Prüfer die Hälfte seiner Prüflinge hat durchfallen lassen.

Also ein Leben weniger für diese Studierenden.

Für jedes verlorene Level, jedes gescheiterte Testat, gibt es eine Nachprüfung. Am Ende des Semesters, kurz nach dem vierten Testat und kurz vor der Biochemie-Klausur fanden die vier Nachprüfungen der Testate statt. 

Es sind schriftliche Nachprüfungen mit 6 Fragen, wobei man die Hälfte davon richtig haben musste, um zu bestehen. 

Wenn jemand zweimal durchgefallen ist, dann muss dieser Jemand zu zwei Nachprüfungen hintereinander.

Ich kenne so jemanden. Ich kenne auch Leute, die diese Nachprüfung nicht geschafft haben. Ein Scheitern, welches meiner Meinung nach kein Anrecht darauf hat, als solches bezeichnet zu werden. Das vierte Testat war bereits Herausforderung genug. Wer parallel dazu dann noch Situs aus Modul 2 wiederholt hat, der hat meinen Respekt. Ich weiß nicht, wie es mir damit ergangen wäre. Nicht gut, nehme ich an.

Nun denn. Was kommt nun nach dieser Nachprüfung, wenn man sie nicht erfolgreich gemeistert hatte? Eine letzte Chance vor dem GameOver. Einen Tag nach der Biochemie-Klausur. Wieder der selbe Ablauf wie bei der ersten Wiederholungsprüfung.

Ich kenne niemanden, der hierbei nicht bestanden hat. Aber es gibt sie trotzdem, die Studenten die dieses Leben verloren haben. EndGame.

Was steht ihnen nun bevor? Wenn sie ihr Staatsexamen wollen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als bei null zu starten. Ein Jahr später, bei dem schriftlichen Eingangstestat der dortigen Dritties. Dann den ganzen Präparierkurs von neuem starten.

Die ganzen Testate wiederholen. Mir dreht es den Magen um, bei der Vorstellung. Ich könnte es nicht. Wenn ich es müsste, dann wüsste ich nicht wie.

Ich bin richtig in der Medizin. Das Ziel, Neurochirurgin zu werden, das hält mich zusammen, das motiviert mich und gibt mir die Gewissheit, dass es sich lohnt, gewisse Opfer zu bringen. Doch ab einem gewissen Punkt wächst man nicht mehr an den Herausforderungen des Studiums. Ab einem gewissen Punkt laugen sie einen nur noch aus.

Ich habe das nach dem vierten Testat gefühlt.

Als ich krank wurde, wenige Tage vor der Biochemie-Klausur. Fieber und Grippe, ja, Corona (laut Testergebnis) nein. Zunächst war ich sehr demoralisiert, weil ich mich fragte, wie ich in dieser Verfassung zur Klausur gehen sollte. Wie ich dem letzten Endgegner entgegentreten sollte. Doch dann fiel eine Last von mir, weil ich beschloss, mich damit zufrieden zu geben, dass ich den Großen Anatomieschein in der Tasche hatte. Ich fand mich damit ab, dass ich nicht mehr konnte. Am nächsten Tag sollte ich mich – nach erneut negativem Testergebnis – jedoch soweit zusammenraffen, dass ich zur Klausur ging. Ich gab meinen Kommilitonen zu verstehen, dass es mir nicht gut gehe und ich deshalb lieber großzügig Abstand halten würde. Die erste Hälfte der Klausur war auszuhalten. Die zweite Hälfte war miserabel. Mir wurde schwindelig und ich sah die Fragen nur noch mehr oder weniger verschwommen. Ich sollte mir die Klausur kein zweites Mal durchlesen. Ich war derart erschöpft, dass ich weit vor Bearbeitungsschluss darum bat, abzugeben. 

Ich sollte die Klausur bestehen. Nicht einmal knapp. Ich weiß nicht, wie.

Ich kenne einige, die durch pures Raten an Punkte gekommen sind. 

Ich kenne Studenten, die haben sich die Fragen erwürfelt. Eine Kommilitonin, die bei der Prüfung in meiner Reihe saß, die hat sich an ,,Ene Mene Mopel“ gewagt, um die richtige Lösung zu finden.

Wenige Stunden nach der Klausur erreichte mich eine automatisch-erstellte E-Mail der Prosektur. 

Man erfragte eine Evaluation des Präparierkurses von allen Kursteilnehmern.

Meine Freundin und ich, wir sollten die Mail später noch thematisieren.

,,Hast du auch diese Mail bekommen?”, sie streckt mir ihr Handy hin.

,,Ja vorhin erst. Hast du das ausgefüllt?”

,,Ne noch nicht. Du?”

Ich zögere. ,,Nein, aber ich denke, ich sollte das noch tun. Der Präpkurs ist so prägend und so wichtig, ich habe das Gefühl, dass da schon Feedback der Studenten gefragt ist.

Allerdings überfordert es mich auch ein bisschen. Es gibt sicher nicht wenig zu sagen, über den Kurs.”

,,Hmm.”

,,Was nicht ging, war der Umstand, wie wenig sie bei den Fehlzeit-Regelungen berücksichtigt hatten, dass wir uns inmitten einer Pandemie befinden. Es war ein offenes Geheimnis, dass zwischendurch alle krank waren und dennoch gekommen sind. Auch, wenn es nicht zwingend Corona war.”

,,True. Ich hatte meine Fehlstunden schon vor dem dritten Testat aufgebraucht. Ich war zwischenzeitlich so erkältet, dass ich nichtmal Karteikarten laut vor mich hin lesen konnte, weil meine Stimme weg war.”

,,Ich konnte das alleine deshalb nicht, weil ich so müde war.”

,,Das kam hinzu.”

,,Was mich aber wirklich gestört hat: das vierte Testat…” 

Sie schüttelt vehement den Kopf.

Das vierte Testat wurde online durchgeführt. Man saß seinem Prüfer in einem Bigbluebutton-Meeting gegenüber.

Am Abend vor dem Testat besuchte mich meine Mutter. Wir gingen spazieren.

Als sie mich im Anschluss des Spaziergangs fragte, wie ich mich den restlichen Abend ablenken würde, sagte ich, dass ich wohl die Bilder meiner Anatomiecollage von der Wand nehmen und noch ein wenig aufräumen würde.

Sie war verwirrt. ,,Wieso willst du die Bilder abnehmen?”

,,Ja ich stehe doch in meinem Schlafzimmer während des Testats.”

Sie dachte erst, ich scherze. ,,Die Studenten wurden eingehend darauf hingewiesen, dass Abbildungen an den Wänden als Täuschungsversuch gewertet werden würden.”

In meinen Augen war es das auch: ein dummer Scherz.

Während der Prüfung lief mein Nachbar an meinem Fenster vorbei. Ich hatte Blickkontakt mit ihm, während sich mein Prüfer auf meinem Bildschirm abzeichnete. 

Ich hatte Angst, dass mir der Prüfer unterstellen würde, irgendwo etwas abzuschauen oder nachzulesen, weil ich stets dazu tendiere, beim Nachdenken einen Punkt in der Umgebung zu fixieren oder meinen Blick schweifen zu lassen. Ich hatte die Befürchtung, ich könne aus dem Meeting fliegen, wie es unzählige Male schon bei den anderen Bigbluebutton-Meetings der Kurse und Praktika passiert ist.

Ich werde richtig wütend, wenn ich darüber nachdenke, dass ich diese wichtige Prüfung digital hatte. Der Entschluss, diesen wichtigen Teil des Präparierkurses ins Onlineformat zu verschieben, entzieht sich meiner Meinung nach jeglicher Logik.

Schließlich geht die Prüfung nicht sonderlich lange. Schließlich hatte man bei viel entbehrlicheren Teilen auf die Anwesenheitspflicht der Präsenzveranstaltungen gepocht.

Wieso bin ich 5 Stunden im Physiologiepraktikum und führe Experimente und Messungen an meinen Kommilitonen durch, muss aber meinen Nachbar für immer als Teil des vierten Testats verbuchen? 

Ich bin wirklich ein wenig entzürnt. Ich habe viel Verständnis für die Maßnahmen. Ich finde, dass unsere Universität stets ihr Bestmögliches getan habt, um optimal mit der aktuellen Lage umzugehen. Und das meine ich sowohl in Hinsicht auf die Politik, auf die Infektionsgefahr und auf die vielen Verordnungen. Nicht einfach, ich weiß. 

Aber dieses Testat war eine Zumutung. Punkt.


Autorin:

Audrey

Coucou, mein Name ist Audrey und ich bin eine aufgeweckte Medizinstudentin aus Freiburg!

Derzeit befinde ich mich ich im vierten Fachsemester Humanmedizin der Albert-Ludwigs-Universität. Ich bin unternehmungslustig, neugierig und nehme mich selbst meistens nicht allzu ernst. Hier schreibe ich ehrlich und ungeschönt über das Medizinstudium, das Studentenleben und so manches anderes.

Mach dir doch einfach dein eigenes Bild. Bis dann!

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