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Abwarten
Ein Uhr hat’s geschlagen, die Räuber kommen nicht.
Zwei Uhr hat’s geschlagen, die Räuber kommen nicht.
Einen Tag nach der Anatomie Abschlussklausur findet eine wichtige Gedenkfeier statt.
Sie wird traditionell von den Medizinstudierenden des Semesters organisiert, das gerade den Präparierkurs absolviert hat. Es ist die alljährliche ökumenische Gedenkfeier der Körperspender, bei der die Studierenden auf diejenigen unter den Angehörigen bzw. Freunde der Donatoren treffen, die in der ,,Letztwilligen Verfügung” Erwähnung gefunden haben. Es geht darum, den Donatoren Respekt zu erweisen.
Die Bereitschaft, den Körper für die Lehre und die medizinische Forschung zur Verfügung zu stellen, ist eine Frage der gesellschaftlichen Solidarität. Die Körperspende ist das Geschenk eines Menschen an seine Mitmenschen, insbesondere an die nächste Generation. Dieses Vermächtnis hat daher einen zutiefst humanen Aspekt.” , schreibt die Université de Fribourg dazu.
Nur durch diese Bereitschaft war ich in der Lage mein anatomisches Wissen auf die Art und Weise zu erweitern und zu festigen, wie es lediglich der Präparierkurs erlaubt.
Bereits lange im Vorhinein planen die Studierenden. Es werden Freiwillige gesucht. Wer will im Chor mitsingen? Wer sieht sich bei der instrumentellen Begleitung? Kerzen gestalten, tragen, anzünden. Namen verlesen, Fürbitte vortragen und andere Arten der Wortbeiträge.
Aus Gründen des Infektionsschutzgesetzes ist die Teilnehmerzahl der Veranstaltung limitiert.
Dennoch ist sie gut besucht. Viele schwarz gekleidete Angehörige und Mediziner.
So wie sich das gehört.
Drei Uhr hat’s geschlagen, die Räuber kommen nicht.
Vier Uhr hat’s geschlagen, die Räuber kommen nicht.
Es ist Ostern. Über die Feiertage ist vorlesungsfrei. Auch mit den Ergebnissen der Anatomie-Klausur ist nicht zu rechnen. Meine Anspannung steigt.
Ich könnte durchgefallen sein. Meiner Kalkulation nach habe ich zu wenig Punkte. Es geht nicht um viele Punkte. Es könnte nur um einen einzigen Punkt gehen. Mir könnte die vegetative Innervation eines Kolonabschnittes einen Strich durch die Rechnung gemacht haben.
Einige meiner Freunde hoffen, der Schnitt könnte eventuell gesenkt werden. Demnach könnte es gereicht haben oder eben doch nicht. Könnte, könnte, könnte,….
,,Komm mir bitte nicht so. Ich mag keine Hoffnung.”
Es ist meine Standardantwort, die jedes Mal aufs Neue Lacher und Schmunzler erntet. Vielleicht gerade deswegen, weil ich es mit so viel Überzeugung von mir gebe. Weil ich es hundertprozentig ernst meine. Mit Hoffnung kann ich nichts anfangen. Ich brauche Planungssicherheit. Wenn ich die nicht habe, gehe ich prinzipiell vom Schlimmsten aus.
Ich fahre bisher ganz gut damit.
Fünf Uhr hat’s geschlagen, die Räuber kommen nicht.
Sechs Uhr hat’s geschlagen, die Räuber kommen nicht.
Ostern ist vorbei. Die Ergebnisse lassen weiterhin auf sich warten. Die Anspannung steigt weiter.
Modul für Modul knüpfe ich mir Themen vor, die Unsicherheiten bergen könnten.
Frustrierend ist, dass ich noch immer Lücken füllen kann, da die Stoffmenge so umfassend ist.
Aber ich betrachte das ganze positiv. Alles was ich dazu lerne und festige, habe ich im kommendem Staatsexamen parat.
Meine Freunde haben noch immer Hoffnung, der Schnitt könnte angepasst werden. Ich weise die Hoffnung weiterhin von mir. Sie lässt mich nicht härter arbeiten. Sie gibt mir gar nichts.
Sieben Uhr hat’s geschlagen, die Räuber kommen nicht.
Ein Kommilitone telefoniert mit dem Dekanat. Man habe Probleme bei der Auswertung der Ergebnisse. Es könne noch dauern. Wie lange kann keiner sagen. Ich weiß, dass der Kommilitone noch eine andere Nachschreibklausur hat. Dass auch er zu denjenigen gehört, die hoffen, der Schnitt würde gesenkt werden. Sei es nur um einen Punkt.
Er ist gewissermaßen das genaue Gegenteil von mir. Da wo ich vom Schlimmsten ausgehe, hofft er umso intensiver. ,,In den Wind spucken, Geister beschwören und ganz dolle hoffen, Audrey.”, hat er mal zu mir gesagt.
Acht Uhr hat’s geschlagen,…
Weiter geht es in puncto Lückenfüllung. Nachdem ich mehrere Stunden Gaumen, Pharynx-, Larynx- und Schlundbogen-Muskulatur wiederholt habe, ergreife ich die Flucht.
Zack. Sonne, frische Luft, Bewegung, gute Laune. Die Karteikarten dabei.
,,Audrey? Ich hätte dich fast nicht erkannt, mit der Sonnenbrille!”
Es ist ein Studienfreund, der plötzlich vor mir steht.
,,Haben deine Freunde und du Anatomie bestanden?”
Ich schüttele den Kopf. Er wirkt überrascht. Er ist es gewohnt, dass ich jedes Mal befürchte, durchgefallen zu sein. Nicht jedoch, dass es tatsächlich eintrifft.
Nicht einmal, als ich dachte durch Histologie durchgefallen zu sein.
Ich kläre ihn auf. Wir unterhalten uns kurz. Es ist eine nette Begegnung. Dennoch bin ich froh, als ich mich wieder auf meine Karteikarten konzentrieren kann.
Neun Uhr hat’s geschlagen,….
Beim Spazierengehen begegnet mir ein junger Typ, der eine bekannte Lektüre an seine Brust gedrückt hält. Es ist das Histologie-Skript. Die nächste Runde Zweitsemestriger startet jetzt in die Mikroskopische Anatomie. Allgemein belegt gerade eher das zweite Semester den vierten Stock. Sporadisch sind es auch Grüppchen höherer Semester.
Der vierte Stock gibt immer einen ganz guten Überblick darüber, wer gerade viel zu tun hat und bei wem gerade Klausuren anstehen.
Ich überlege mir jedes Mal, was ich einem Zweitsemestrigen raten würde. Gerade in puncto Histo. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, später einmal Tutorin zu werden.
Wie das wohl wäre, Präp-Tutorin zu sein?
Ich könnte sicher einiges an hilfreichen Tipps weitergeben.
Doch ich fühle mich auch, als hätte ich nicht das Recht darüber nachzudenken, solange ich Anatomie nicht bestanden habe.
Die Ergebnisse lassen auf sich warten.
Zehn Uhr hat’s geschlagen,…
Die Anspannung steigt. Am 25. 4 ist offizieller Vorlesungsbeginn. Praktika finden jetzt schon statt. Auch BC und Physio-Vorlesungen hat es schon gegeben.
Für mich stehen Tage an, in denen sich die Termine überschlagen und überschneiden. Ehrenamt, Praktikum, Laborbesuch bis 19 Uhr 30 – und am nächsten Tag die Nachschreibeklausur. Mir graut es davor.
Elf Uhr…
Ein Freund von mir hat über die Feiertage seine Familie besucht. Auf dem Rückweg hat er jede Störung mitgenommen, die Deutsche Bahn zu bieten hat. Er kommt sage und schreibe, ganze 11 Stunden zu spät in Freiburg an. 5 Stunden hat er in einem ICE gesessen. Den Prometheus auf dem Schoß – ,,Ein bisschen Neuro lernen, weißt du Audrey?” – hat er sich damit abquälen müssen, dass der Zug nicht losfahren konnte. Dauernd hat er sein Handy überprüft. ,,Aber eh, der Zug ist noch immer nicht losgefahren!”
Die Trägheit und die Anspannung angesichts dessen, welche Verpflichtungen in Freiburg auf ihn warteten, drückten seine Stimmung ins Minus.
Am meisten war es aber das Warten, das ihn störte.
Das was er erlebte, hätte nicht eher meine eigene Stimmung widerspiegeln können. Abwarten.
Zwölf Uhr,….
Ein weiterer Morgen vergeht, ohne, dass wir die Ergebnisse erfahren.
Ich überlege, der Prosektur eine Mail zu schreiben.
,,Wie wäre es mit einem Karrierewechsel? Die Deutsche Bahn hat sich auf Verspätungen spezialisiert und gerade akuten Personalmangel.”
Ich beschließe erneut die Karteikarten beim Laufengehen mitzunehmen.
Sportschuhe an. Ich greife nach Karteikarten und Handy. Nochmal kurz nach den Nachrichten schauen, bevor ich das Haus ohne Handy verlasse.
Womöglich wäre die Ernüchterung harmloser ausgefallen, wenn ich meiner Einstellung vollends treu geblieben wäre. Wenn ich nicht doch ein wenig von der Hoffnung der anderen übernommen hätte.
,,Audrey die Ergebnisse sind da!”, lese ich im Chat mit einer Freundin.
,,Und?”, schreibt eine andere.
,,Audrey. Für die Humanis wurde der Schnitt nicht gesenkt. Lass uns gemeinsam im Kreis rennen und schreien.”, lese ich in einem weiteren Chat.
Ich setze mich hin. Okay. Das war es doch worauf ich mich vorbereitet hatte. Trotzdem spüre ich noch den bitteren Nachgeschmack vergeblicher Hoffnung.
Irgendwann beschließe ich, auch in die Semestergruppe zu schauen. Hier stehen die offiziellen Ergebnisse bei den jeweiligen Kennungen der Studenten.
Wenig später werde ich meine Freundin anrufen und sie bitten, nach meiner Kennung zu schauen. ,,Du Dödel.”, wird sie sagen. Ich bin zu aufgewühlt gewesen, um mehr als Skepsis für die Ergebnisse zu erübrigen. ,,Bestanden. Genug Punkte.”
Es waren die Aufgaben, bei denen ich mir nicht mehr sicher war, was ich angegeben hatte, die die nötigen Punkte brachten.
Für die hoffnungserfüllten Kandidaten saß der Schock natürlich tief.
Nur dem größten Hoffer von allen, meinem Gegenpart, ging es genau wie mir. ,,Bestanden.”, schrieb er mir. ,,Ich auch.”, antwortete ich.
Ich auch.
Jetzt gilt es denen beizustehen, die in die Nachschreibeklausur müssen. Abfragen, gemeinsam lernen.
Bis alle Schiffchen im sicherem Hafen sind.
Autorin:
Audrey
Coucou, mein Name ist Audrey und ich bin eine aufgeweckte Medizinstudentin aus Freiburg!
Derzeit befinde ich mich ich im vierten Fachsemester Humanmedizin der Albert-Ludwigs-Universität. Ich bin unternehmungslustig, neugierig und nehme mich selbst meistens nicht allzu ernst. Hier schreibe ich ehrlich und ungeschönt über das Medizinstudium, das Studentenleben und so manches anderes.
Mach dir doch einfach dein eigenes Bild. Bis dann!
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