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Im Praktikum lernen die Medizinstudenten das Anlegen eines EEG

Viertes Semester: Wiederanbündeln und Vermeidungsverhalten II

,,Vierter Stock? Ne du. Wenn ich da auch nur meine Sprudelflasche öffne, richtet direkt der ganze Saal seine Aufmerksamkeit auf mich. Also auf mich trifft man eher im Parlatorium.”

Mein Kommilitone räuspert sich.

Ich verziehe das Gesicht. Doch bevor ich etwas erwidern kann, kommt es von einem Dritten:

,,Also ich muss gerade in der UB sein. Hauptsache nicht daheim. Seitdem ich da meine Quarantäne verbracht habe, fällt mir dort die Decke auf den Kopf.Ich weiß gar nicht, wie ich da früher so viel lernen konnte. “

Wir stehen vor der Gelelektrophorese. Biochemie-Laborbesuch, letzter Akt.

,,Pour the water, not the gel!”, weist uns einer der Praktikumsleiter zurecht. 

,,When is your exam?”, wird er uns fragen.

,,Next week.”

Kritisch.

Ich wende mich wieder den beiden Kollegen zu.

,,Mein Lernort ist derzeit eher inkonstant. Aber das Parlatorium hat es mir eher nicht so angetan…”

Lebendig. Bunt. Aufgeweckt. Rege.

Wenn man sich im Parlatorium aufhält, erlebt man eine ganz andere Seite der Freiburger UB. Den gigantischen schwarzen Komplex als einen Ort des sozialen Zusammenseins.

Leute reden. Leute essen. Wenn es abends zu gewittern anfängt, dann stürmen nicht wenige zu der gigantischen Glasfront und freuen sich lautstark über die Wasserschlieren an den dunklen Scheiben. 

Folgendes soll nicht falsch verstanden werden. Aber für mich ist es, als hätte ich mit dem vierten Stock der Lesesäle eine Art Schloss verlassen. Dementsprechend käme das Parlatorium einem Dasein unter Bauern gleich. Klingt fies? ,,Wer dünkt sich eines Besseren?“

Nunja. Ich habe den Umzug ja eigenständig in die Wege geleitet. 

Derzeit halte ich mich hier jeden Abend auf. Warum das Ganze? 

Das hat viele Gründe. Ich denke es drückt gerade einfach meine Stimmung aus. 

Ich befinde mich im Ressourcensparmodus, simultan zu dem Physikums- Vorbereitungsmodus.

Ich ahne, dass ich früher oder später wieder im 4.Stock campieren werde. Ich ahne auch, dass meine Kommilitonen und ich noch sehr viel aufeinander hocken werden. Doch jetzt gerade bereite ich mich in meinen persönlichen Rhythmus vor. Wenn ich derzeit im dritten oder vierten Stock lerne, spüre ich, dass ich innerlich angespannt bin. Von Zuhause lernen ist auch nicht immer.  

Also fing ich an, in die UB zu gehen, wenn die Stoßzeiten vorbei sind. Da sich aber selbst dann noch viel zu viel übermotivierte Studenten im vierten Stock befanden, war es erst der Umzug in dritten und dann – auf der anderen Seite der Glaswand, vier Stockwerke hinab, einmal durch die Eingangshalle und wieder vier Stockwerke hinauf – ins Parlatorium.

Kein exklusiver Raum. Hier lernen auch Schüler. Hier halten sich alle möglichen Menschen auf. 

Klar,es ist immernoch die UB. Ganz wie bei den Hottentotten ist es nicht. Aber eben fast. 

Dennoch verschlägt es mich gerade dahin. Und wenn wir hier kleine Lerntreffen veranstalten und gemeinsam Klausurfragen durchsprechen, dann ist das auch in Ordnung. 

Dennoch bin ich zu privilegiert, um dies zu meinem Dauerlernort zu  machen.

Doch der Zwischenstatus Parlatorium sollte nur von ausgesprochen kurzer Dauer sein. 

,,Hey du, weißt du wo man hier die Toiletten findet?”

Ich löse den Blick von meinen Aufschreiben und hebe den Kopf. Ein Kerl mittleren Alters steht vor mir.

,,Eyy jetzt lass sie doch in Ruhe.”, kommt es von links. Ein weiterer Kerl. Beide haben glasige Augen. Beide haben alkoholische Getränke im Gepäck.

Ich sitze im vierten Stock des Parlatoriums und frage mich, wie es sein kann, dass es die beiden bis hierher verschlagen hat. Eine Menge Treppen für die eher wackelige Verfassung der beiden.

Als ich nicht antworte und nur eine Augenbraue hochziehe, leitet das das Ende der kurzen Begegnung ein. 

Innerlich habe ich mich in diesem Moment vom Parlatorium verabschiedet. Schade.

Dann lieber Zuhause lernen?

Doch auch in der kommenden Zeit sollten meine Lernorte changieren.

Irgendwann beschloss ich, dass es egal ist, wohin ich gehe, solange ich produktiv bin.

Was auch dazu führte, dass man mich gelegentlich an eher merkwürdigen Orten sah. Oder eben auch nicht sah.

,,Nein, jetzt hast du sie in Alkohol getan.”

Das Gesicht des Tutoren verzieht sich. Bisher eher trocken und zurückhaltend erschienen, muss er jetzt plötzlich grinsen. ,,Aber nicht schlimm, da kommen die später eh nochmal rein.”

Ich nehme ein anderes Gefäß zur Hand. NaCl. Dann tunke ich die Elektroden hinein und wende mich wieder meinem Kommilitonen zu. Gar nicht so leicht die Elektroden bei so dichtem Haar anzubringen. 

Der Tutor zeigt mir, wie ich den Probanden richtig verkable.

Fertig. Ich lehne mich zurück und blicke an die Wand, auf die die Ableitungen projiziert sind.

Jetzt mal still sein. Augen zu. Augen auf. Warum sind bei Augenbewegungen spezielle Ausschläge zu erkennen. Hyperventillieren. Konzentrieren.

Hat jemand eine schwere Frage für ihn?

Ich zücke mein Tablet und lese eine beliebige Prüfungsfrage der letzten Jahre vor.

Stille im Raum. ,Und was ist jetzt die Frage?’, kommt es vom Tutor.

,,Das war die Frage.”, antworte ich. Stirnrunzeln des Tutors. Die Physiofragen sind ein spezielles Kaliber. Selbst für ihn. Und gelegentlich auch für die Physiologen selbst.

Aber gut. Wir blicken wie gespannt auf das EEG.

Ich bilde mir ein, mehr Gamma Oszillationen zu sehen.

Neben mich lehnt sich ein Kommilitone. Wir unterhalten uns über evozierte Potenziale. Ich erzähle ihm von P300 und was man bei Patienten mit Panikstörungen beobachten konnte.

,Wir vor der Physioklausur’, erwidert er trocken. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Kritisch.

Nach dem Praktikum bin ich in der UB verabredet.

Da sich mein Lernpartner verspätet, beschließe ich in der UB auf ihn zu warten.

,,Wo bist du?”, schreibt er.

,,Dritter Stock.”

,,Wieder versteckt?”, will er wissen.

Er kennt mich zu gut.

Versteckt im dritten Stock der UB

Aber wie gesagt. Der Fokus lag nur noch darauf, möglichst produktiv zu sein.

Wobei, eine Wahl hatte man eh nicht. Zumindest nicht, wenn man einen Blick in den Kalender wagte.

Juni. Die letzten Tage könnten nicht schneller vergehen.

Halt, Stopp! Möchte ich schreien. Ich bin nicht so weit.

Nicht, dass ich mich je zu irgendwas bereit fühlen würde.

Doch die Zeit scheint mit wirklich zu knapp, um Physio und Biochemie zu bestehen.

Ein letztes Biochemie Praktikum steht an. Physio ebenso. Ein paar Univeranstaltungen, die meines Erachtens zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Ein Vortrag, den ich noch halten muss.

Ich kämpfe mich durch zahlreiche Fragenkataloge und versuche mir selbst nicht allzu sehr mit Müdigkeit, Rückenschmerzen und mangelnder Konzentration im Wege zu stehen.

Ich empfinde gelegentlich ein kleines Panikaufkommen. Gelegentlich, nicht sonderlich häufig jedoch. Ich rechne damit, dass sich das mit Anbrechen des siebten Kalendermonats ändern wird.

Jetzt gerade befinden sich in ganz Deutschland viele Medizinstudenten in den Vorbereitungen auf das M1. 30 Tage Lernplan, 36, 50 oder abweichend.

Für mich schließt sich ein 50 Tage Lernplan aus.

Denn dieser würde bedingen, dass ich bei BC und Physio nicht mehr Vollgas geben könnte .

Im Juli steht zuerst BC an. Bei Nicht-Bestehen hat man wenige Tage, um für die Nachprüfung den Stoff zweier Semester nachzuholen.

Und die Physioklausur, die ebenfalls wenige Tage nach der BC Klausur ist. 

Die Nachprüfung für Physio ist im Grunde ein ‚SagtschüsszuPhysikum“-Termin.

Wenn man die BC Nachprüfung nicht besteht, selbiges.

Das also, fasst in wenigen Sätzen zusammen, was ich mit „Jetzt darf man nichts dem Zufall überlassen“ meine.

Ich weiß, dass ich in meinem Leben schon häufig auf das geblickt habe,  was sich vor mir auftat, und nicht wusste, wie ich das schaffen sollte.

Doch es wird dadurch in seiner Intensivität nicht milder, wenn ich es wieder empfinde.

Mein Magen zieht sich zusammen, ich atme tief und weiß,  dass ich mich dem Verkrampfen nicht hingeben darf. Nicht Einrosten, weiter laufen.

Selten nur noch einen Blick in die Nachrichten gewagt. Krieg. Inflation. Auf der Welt geschehen teils üble Dinge. Und doch führen meine Kommilitonen und ich gerade einen eigenen Kampf, in unserer Bubble.

Ein Kampf, geprägt von der Willkür gewisser Freiburger Physiologen, die sich vermutlich gerade irgendwo mit ihren Elektroden in der Nase bohren und Klausurfragen herausziehen.


Autorin:

Audrey

Coucou, mein Name ist Audrey und ich bin eine aufgeweckte Medizinstudentin aus Freiburg!

Derzeit befinde ich mich ich im vierten Fachsemester Humanmedizin der Albert-Ludwigs-Universität. Ich bin unternehmungslustig, neugierig und nehme mich selbst meistens nicht allzu ernst. Hier schreibe ich ehrlich und ungeschönt über das Medizinstudium, das Studentenleben und so manches anderes.

Mach dir doch einfach dein eigenes Bild. Bis dann!

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