Blog
Schimpfen über die Ärzte: Die Sache mit dem Feingefühl
Jeder hat so seine Meinung über die Mediziner.
Sowohl über uns Medizinstudierende, als auch über die Ärzte.
Wenn ich mich mit Menschen über Ärzte unterhalte, bekomme ich in der Regel eine Meinung zu hören, die entweder stark positiv geprägt ist oder stark negativ.
Positiv vor allem, wenn jemand ein gutes Verhältnis zu seinem Hausarzt hat oder infolge eines Krankheitsverlaufs (nicht zwingend der eigenen Person) gute Erfahrungen gemacht hat.
Dann gibt es aber noch die, die eher negativ gestimmt sind.
Ich beobachte häufig, dass sie ihre ganze Kritik am Gesundheitssystem auf die Ärzte übertragen. Sie differenzieren nicht. Sie berufen sich auf Stereotype und Vorurteile des Volksmunds. Der behandelnde Arzt wird schnell mal wieder nur zu dem kalten, abgebrühten Operateur abgestempelt, dem das Schicksal seiner Patienten wohl egal ist, solange das Gehalt stimmt.
In solchen Momenten muss ich mich stark zusammenreißen, um nicht in eine Tirade darüber zu verfallen, unter wie viel Druck und Anspannung, wie viel Zeitdruck (womöglich) und mit wie viel Verantwortung (mit Sicherheit) die Ärzte agieren.
Die Menschen machen es sich zu leicht. Sie verstehen nicht, was alles im Gesundheitssystem vor sich geht. Sie kennen die Abläufe und Strukturen nicht.
Ich sage nicht, dass ich sie alle kenne. Nein, auf keinen Fall. Im Laufe des Studiums und auch im Laufe meiner Krankenhauszeit werde ich Stück für Stück immer mehr davon kennenlernen. Mit manchem werde ich womöglich gar nicht in Kontakt kommen. Einfach, weil man in gewissen Fachgebieten eine gewisse Position innehaben muss, um wirklich ein grundlegendes tiefergehendes Verständnis für diesen Teil der Medizin zu entwickeln.
Ich kann nichts dagegen tun: Ich störe mich daran, wenn Menschen mehr Meinung als Ahnung zu gewissen Themen haben. Ja klar ist es einfacher die Worte des Volksmunds zu wiederholen. Beeindruckt mich aber nicht.
Also gut. Kehren wir zurück zu den kalten abgebrühten Operateuren. Vielleicht einmal ein Gedanke dazu. Ist es nun wirklich so, dass die behandelnden Ärzte im Laufe ihrer Karriere abstumpfen?
Was ist denn nun, wenn es sich doch ein wenig anders verhält?
Wenn Ärzte im Umgang mit Menschen in sehr fragilen Situationen zunehmend etwas über deren Zerbrechlichkeit lernen, werden die Ärzte dann nicht sogar auf eine ganz bestimmte Art und Weise sogar sensibler?
Es ist eine Art der Sensibilisierung, die man am Beginn der Karriere womöglich nicht hätte vorhersehen können.
Nehmen wir mich als Beispiel.
Ich sage von mir, dass ich Neurochirurgin werden will.
Gehen wir davon aus, ich stünde bereits an dem Punkt meiner Laufbahn, an dem ich diese Entscheidung tatsächlich treffen müsste.
Dann ginge mit der Entscheidung für ein Fach wie die Neurochirurgie zunächst eine gewisse Faszination des Berufs voraus. Einfach, weil ich die Neurochirurgie für ein spannendes Fachgebiet halte und das Gehirn für ein tolles Organ.
Dann würde aber mit dem Fällen dieser Entscheidung im Laufe der Jahre an Berufserfahrung, auf Erkundungsreise durch das Fachgebiet, auch einiges auf mich zukommen, womit ich womöglich nicht gerechnet hätte oder hätte rechnen können.
Worauf ich im speziellen anspiele ist hierbei die Begegnung und der Umgang mit den Patienten, deren Lebenssituation sich mir in ihrer Fragilität offenbaren würde.
Ein Neurochirurg meinte einmal:
,,Wenn jemand bei mir in die Ambulanz kommt, in der Notaufnahme steht, spielt es keine Rolle mehr, ob es jemand ist, der es gewohnt ist, in seinem Leben alles im Griff zu haben und alles entscheiden zu können. Viele Patienten, die zu mir kommen, sind so groß geworden und haben die letzten zwanzig Jahre in der Situation gelebt, dass sie alles unter Kontrolle haben, dass sie Macher sind. Und wenn sie dann diese Erkrankung haben, die ihre Motorik bzw. ihre Sprache leiden lässt oder sie stigmatisiert, weil sie Epilepsie haben, dann lernt man sie von einer ganz anderen Seite kennen. Nämlich von einer hilflosen, sehr verletzlichen Seite.
Ich denke das ist ein Privileg und das wahrzunehmen, ist ein Lernprozess, den man als Neurochirurg machen muss.”
Demnach besteht die Sensibiliserung darin, dass man einen tiefergehenden Respekt vor der fragilen Menschlichkeit entwickelt. Eine Sensibilisierung die den Blick für den Gegenüber- nicht zuletzt in Hinblick auf die Behandlung – schärft.
Es ist letztendlich auch ein Tanz um das Wort Empathie. Doch während man gewissen Ärzten die Fähigkeit zu Empathie abspricht, denke ich nicht, dass das mit dieser Art Feingefühl, dieser Art Verständnis der menschlichen Verletzbarkeit, ebenso leicht möglich ist. Das kann man den Ärzten nicht nehmen.
Es resultiert im Grunde auch in ökonomischeren Entscheidungen des Behandelnden.
Was braucht ein Patient wirklich? Was macht seine Zerbrechlichkeit aus? Einen Patienten, dem sein Sprachvermögen wichtiger ist, als seine Motorik, behandle ich anders, als einen, bei dem es sich genau umgekehrt verhält.
Es ist etwas, das langfristigen Erfolg verspricht, wenn es vernünftig gemacht wird.
Ich kann mir gut vorstellen, dass dieser Lernprozess auch davon geprägt wird, wie die eigene gesundheitliche Institution geführt wird (Großes vs kleines Krankenhaus, muss eventuell gar nicht jeder behandelt werden, der ankommt? Sprichwort ‘Überversorgung im Gesundheitssystem’), aber auch von den jeweiligen Vorgesetzten (Schließlich ist da durchaus eine gewisse Weitergabe bestimmter Werte innerhalb der Hierachie).
Okay: Zeit für Zweifel. Ich habe schon Tage in der Großambulanz verbracht und durfte Patienten dabei begleiten, wie sie ein Behandlungs- bzw. Untersuchungszimmer nach dem nächsten abgeklappert haben. Aber auch aus umgekehrter Perspektive habe ich bei den Behandelnden im Zimmer gesessen und die Hektik gespürt, mit der die Patienten hereingerufen, untersucht und wieder weiterverwiesen/losgeschickt wurden. Die Geschwindigkeit war wirklich irre.
Kann da wirklich noch viel Feingefühl im Spiel gewesen sein?
Ich denke ja. Ich denke, dass die Routiniertheit der Ärzte dem nicht widersprechen muss. Ich denke, dass die Routiniertheit einerseits eine gewisse Expertise und Professionalität erfordert, andererseits aber auch Zeit spart. Zeitsparungen, die dem Patienten am Ende (idealerweise) noch die Gelegenheit geben, Anliegen zur Sprache zu bringen, die ihrer Meinung nach zu kurz kamen.
Nein, ich denke nicht, dass Ärzte zwingend abstumpfen. Sie reagieren nur nicht überrascht, über jede Diagnose, jeden Befund, jedes Schicksal. Mit der Zeit werden sie wohl viel gesehen haben. Macht das nicht auch ihre Professionalität aus?
Würde dem Patienten ein Arzt, der sich bei jeder Erkenntnis theatralisch an die Brust fasst, womöglich weniger abgestumpft erscheinen? Professioneller wahrscheinlich eher nicht. Ich jedenfalls würde mich bei so einem Arzt nicht besser aufgehoben fühlen.
Letztendlich fragen die Patienten auch nach einer gewissen Routine. Wollen wissen, wie oft der Operateur den Eingriff schon durchgeführt hat. Ein abgeklärtes, unbeeindrucktes ,,Hmmm, um die zweihundert mal.” als Antwort, gibt dem Patienten Sicherheit.
Darüber hinaus möchte ich an der Stelle einmal die Frage in den Raum werfen, ob wir den Ärzten wirklich zumuten wollen, dass sie jedes Schicksal persönlich tangiert?
Ich denke nicht. Aber gut, bringen wir nichts durcheinander. Wie gesagt, ich verstehe diese Sensibilisierung als etwas, das man von Empathie abgrenzen kann.
Vielleicht als ein Verständnis das Empathieempfinden überhaupt erst ermöglicht? Vielleicht ist die emotionale Bewertung des Verstandenen auch einfach typenabhängig.
Hmm.
Vieles sei an dieser Stelle bewusst offen gelassen.
Tatsache ist, den Ärzten einfach den Stempel ,,kalt und abgestumpft” oder gar ,,desensibilisiert” aufzudrücken, erscheint mir nicht nur vorschnell und überlegt, sondern gar töricht.
Und seien wir mal ehrlich: Wenn es ausschließlich um das Gehalt ginge, gäbe es auch einfachere Studiengänge, bei denen man sich einschreiben könnte.