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So meine lieben Kinderleins II: Abläufe
,,Wieso bist du eigentlich Tutorin geworden? Hat der Kurs dir damals so viel Spaß gemacht?”
Ich blicke hoch. Der weiße Kittel des Zahnis überragt meinen gelben Hiwi-Kittel bei weitem. Es ist Kurstag 3. Ich betreue gerade die vierte Gruppe an Studenten.
Es herrscht Hiwi-Knappheit, aufgrund von organisatorischen Problemen mit Arbeitsverträgen, Kollisionen mit den Stundenplänen der neuen Klinikern und wegen Krankheitsfällen.
Auch an meinen Tischen schniefen schon die ersten Studenten.
,,Ich bin mal gespannt, wie lange es diesmal braucht, bis die Erkältungssession um sich greift. Letztes Jahr gab es da so zwei Phasen. Dass es da mit den 15 Prozent erlaubter Fehlzeit schwierig ist, wird sicher auch dieses Jahr ein Thema werden.”
,,Ich befürchte, die Erkältungszeit hat schon angefangen.”, meint eine der Schniefenden.
Ich hoffe, dass meine Gruppen möglichst verschont bleiben. Klar, die anderen. Aber primär meine Kinderleins.
Bereits jetzt sind sie mir ans Herz gewachsen.
,,Du bist so eine Mamma-Bär.” ziehen mich meine Freunde auf, wenn ich von den Studenten erzähle. ,,Ich seh mich schon, wie ich in den Clinch mit jedem Professoren gehe, der sie nicht bestehen lässt. Der Beschützerinstinkt ist auf jeden Fall da.”
,,Ich stell mir dich so richtig wie sone Entenmama vor, der die hinterher watscheln.“
Die Belustigung nimmt kein Ende.
Aber nein, so ist das nicht. Die Hiwi-Knappheit hat gezeigt, wie toll sich die Studenten selbst organisieren können. Sie schlagen sich super.
Dennoch habe ich bereits beim zweiten mal Präppen die Zügel angezogen. Ohne Struktur kommen wir zu nichts. Dann erzielen wir mit dem Körperspender keinen Fortschritt und sie ziehen keinen Mehrwert aus dem Kurs.
,,Umso mehr wir nachher gut freigelegt haben, umso mehr können wir bestimmen und umso optimalere Voraussetzungen habt ihr für eure mündliche Prüfung.”
Immer wenn das Wort Prüfung oder Testat fällt, mache ich meine beschwichtigende Geste. ,,Ganz ruhig. Wir tasten uns da gemeinsam heran.”
Also Struktur. Erst die Gruppen vernetzen, sodass sie sich auch außerhalb der Kurszeiten austauschen und an Material kommen können.
Meine Kinderleins teilen sich nach Körperregionen auf, sodass immer ein bis zwei Experten für jede Körperregion existieren. ,,Das heißt, ihr lest eure Präparieranleitung durch und wisst was ihr zu präppen und welche Strukturen ihr zu erwarten habt. Das heißt nicht, dass ihr jedes kleinste Detail der Körperregion können müsst. Aber eben eine gewisse Ahnung, sodass ihr den anderen davon erzählen könnt. Wenn es nicht so viel zu präppen gibt oder die Körperregion durch einen von zwei Experten schon abgedeckt ist, dann schnappt sich einer von beiden einen Atlas und versucht schon mal zu bestimmen. Wir hören rechtzeitig auf, damit wir noch genug Zeit zum Besprechen und Aufräumen haben. Nach dem Kurstag rotieren die Körperregionen.
Am Anfang des Kurstages enthülle ich mit der frühen Kohorte den Körperspender und begutachte, was die Gruppe des vorherigen Kurstages erarbeitet hat. ,,Müssen wir auch die Präparieranleitung von den anderen durchlesen?”, ist eine meiner Lieblingsfragen der Kinderleins. ,,Naja, du musst zumindest wissen, was sie freigelegt haben. Und ob wir eventuell hinterherhängen und noch Teile ihrer Anleitung übernehmen müssen. Es bringt nichts, wenn wir einen Muskel teilen und zur Seite klappen wollen, der noch nicht einmal von seiner Faszie befreit, geschweige denn mobilisiert worden ist.”
,,Was bedeutet ,mobilisieren’?”, eine weitere meiner Lieblingsfragen. Ich nehme den rechten Trapezius zur Hand, hebe ihn an und klappe ihn auf die Seite. ,,Das hier war ein mobilisierbarer Muskel.” Ihr Nicken signalisiert mir, dass sie verstanden haben.
Wir wandern von oben nach unten. ,,Wer hat sich heute Rücken und Nacken herausgesucht?”
Die Experten melden sich. Wir besprechen mit der Gruppe, was sich am Spender verändert hat, was heute zu tun und vor allem was zu beachten ist. Ich stelle Fragen in den Raum.
Die Studenten antworten zunächst zaghaft.
,,Erklärs nicht mir, erklärs der Gruppe. Ergänzt euch gegenseitig. Meldet euch nicht. Sprecht frei und laut. Ihr seid eine Gruppe, ihr zieht an einem Strang. Ich erwarte nicht, dass ihr alles könnt. Also habt keine Angst, etwas falsches zu sagen. Das nimmt euch die Hemmungen vor mündlichen Abfragen.” – beschwichtigende Geste.
Beim Verteilen der Aufgaben frage ich immer wieder ,,Traust du dir das zu? Gut.” Am Ende der Aufgabenverteilung dann: ,,Weiß jeder, was er zu tun hat? Gut.”
Ich eile zum nächsten Tisch. Selbes Prozedere. Wenn ich sehe, dass der Dozent da ist, ordne ich mich still ein. Oder gehe zu einem anderen Tisch.
Immer wieder kommen Fragen auf.
,,Ist das noch Fett, kann das weg?” ,,Ist das schon Muskel oder ist da noch Faszie?”
,,Soll das so aussehen oder ist das schon vergrößert?” ,,Könnte das die Arterie XY sein?” ,,Audrey, würdest du sagen, dass der Spender besonders muskulös war?”
,,Erinnert euch an die Leichenschau, die wir beim ersten Kurstag gemacht haben. Wie alt ihr den Körperspender geschätzt habt. Jetzt könnt ihr euch überlegen, ob ihr da Muskeln wie bei Arnold Schwarzenegger zu erwarten habt.”
Sie stellen sich sehr geschickt an. Ich versuche Tipps und Ratschläge zu geben. Unterhalte mich mit ihnen über ihre Lernstrategien. Sie fragen mich viel dazu, wie ich damals an den Kurs herangegangen bin. ,,Es ist so viel Stoff. Wo fängt man an?”, höre ich immer wieder. ,,Verzettelt euch nicht. Am Anfang befasst man sich oft mit Zeug, das weniger relevant ist. Am Ende setzt man die Schwerpunkte richtig. Hört euren Dozenten genau zu. Beiläufige Randbemerkungen können schon Hinweise dazu enthalten, was ihm wichtig ist. Es existieren Protokolle von alten Prüfungen der letzten Jahre. Schaut, was euer Dozent gerne gefragt hat. Überlegt euch, was für Lerntypen ihr seid. Sucht euch eine Literaturquelle, bei der ihr euch wohlfühlt. Abbildungen, bei denen etwas überspringt. Groovt euch zumindest für ein Modul auf eine ein. Oder mischt zumindest nicht zu viel. Literatur kann sich ergänzen, kann aber auch Unterschiede aufweisen. In der Regel hat man im Studium nicht zu wenig Materialien oder Literatur. Die Frage ist eher, wie bekommt ihr das alles in euren Kopf. Da gibt es keine eindeutige Antwort. Da kennt ihr euch selbst am besten. Aber mündliches Durchsprechen ist das A und O.”
Ein Humani erzählt davon, wie er seiner Mutter die tastbaren Knochenpunkte erklärt hat. Wir müssen alle lachen. Meine Mutter hat auch schon als Lernpartnerin fungieren müssen. Schlimm, diese Mediziner.
Eine weitere Studentin erzählt, dass sie immer bei sich daheim auf dem Boden sitzt und einen Ball gegen die Wand schmeißt, während sie vor sich hin spricht.
Die Gruppen lernen sich kennen. Sie sind ein zusammengewürfelter Haufen an Zahnis und Humanis des dritten (selten auch fünften) Semesters. Im zweiten Modul bekomme ich noch Molis zugeteilt. Einzelne Studenten werden den Kurs auch verlassen. Weil sie ihn schieben, oder weil sie ganz aufhören. ,,Das ist die natürliche Auslese.”, meinte ein Kollege von mir dazu.
Die Tischgruppen werden warm miteinander. Ich wünsche ihnen, dass sie sich verstehen. Dass sie sich womöglich mit anderen Kinderleins anfreunden.
Auch ich habe noch mit Leuten meines ehemaligen Tisches zu tun. Auch, wenn der Präparierkurs kein optimaler Ort zum Kennenlernen ist, freut man sich doch immer, wenn man bekannte Gesichter wieder sieht.
In der Regel kreuzen sich die Wege im Studium noch viele weitere Male. Manchmal kommen ungeahnte Freundschaften zustande.
So verhält es sich, in der Medizinerbubble.
PS: Die Frage danach, wieso ich Tutorin geworden bin, beantwortet sich hoffentlich von selbst. Ich habe jedenfalls sehr viel Freude daran.
Autorin:
Audrey
Coucou, mein Name ist Audrey und ich bin eine aufgeweckte Medizinstudentin aus Freiburg!
Derzeit befinde ich mich ich im vierten Fachsemester Humanmedizin der Albert-Ludwigs-Universität. Ich bin unternehmungslustig, neugierig und nehme mich selbst meistens nicht allzu ernst. Hier schreibe ich ehrlich und ungeschönt über das Medizinstudium, das Studentenleben und so manches anderes.
Mach dir doch einfach dein eigenes Bild. Bis dann!
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