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Das richtige Maß I

Über Barrieren, Bequemlichkeit und einen offeneren Blickwinkel

Mit einem Umzug ist in der Regel eine gewisse Vorfreude verbunden.

Eine Vorfreude darauf, wie man sich die neuen Räumlichkeiten zu eigen machen wird und sich dort entfalten kann.

,,Man könnte ja an die Wand….Und was ich schon immer mal machen wollte…Und hier könnte ich dann….”

Es ist ein gewisser Spirit, der sicher die meisten von uns bereits einmal erfasst hat.

Aber warum, frage ich mich, warum nicht die Entfaltung schon in der aktuellen Wohnung starten? Ganz ohne Umzug? Warum nicht jetzt schon das umsetzen, was man länger schon umsetzen wollte? 

Warum nicht aus Handlungs- und Gedankenmustern ausbrechen und etwas Neues ausprobieren? Etwas verändern?

Es ist jedenfalls kein Mangel an Freiheit, der uns davon abhält. Kein Mangel an Möglichkeiten. 

Es ist Bequemlichkeit. Eine gewisse Faulheit, derer wir nur allzu gerne nachgeben. 

Letzten Endes ist es genau diese Faulheit, die unser Spektrum an Möglichkeiten der Selbstentfaltung auf ein Mindestmaß reduziert.

Wir stehen uns selbst im Weg. 

Wir sind es.

Also ist es gewissermaßen unsere Entscheidung unfrei zu sein.

Weil es uns zu anstrengend ist, Gewohnheiten zu ändern. 

Zumindest gehen wir davon aus. 

Die Annahme, dass es mit Anstrengung verbunden sein muss/wird, hält uns davon ab, den ersten Schritt zu machen. Die Laufschuhe anzuziehen. Auszubrechen.

In der Medizin stellt man sich die Frage, wie man Patienten am effektivsten dabei unterstützen kann, ihre Gewohnheiten zu ändern und/oder sinnvolle Handlungsweisen zu integrieren.

Oftmals ist es ein Mangel an Selbstwirksamkeit, der sie davon abhält.

Sie halten es schlichtweg nicht für möglich, dass sie es schaffen werden. Sie erwarten womöglich von vornherein zu scheitern. 

Wenn sie jedoch klein anfangen, Erfolge erzielen und somit sehen, dass sie kompetent sind, dann gibt ihnen das genug Kraft, den nächsten Schritt zu machen. 

So baut man sich eine Routine auf.

So tastet man sich an seine Ziele heran. 

Ein Freund und ehemaliger Laufpartner von mir hat es einmal die Cookie-Method getauft.

Jedes Erfolgserlebnis kommt einem Cookie gleich, den man sicher in einem Glas verwahrt.

Wenn man sich dann an eine neue Herausforderung wagt, erinnert man sich an das Glas. Dann holt man den Cookie heraus und nutzt ihn als Kraftquelle. 

Cookies werden dabei nicht verbraucht. Cookies können gar nicht verbraucht werden. 

Au contraire: nach dem neuen Erfolgserlebnis hat man nicht einen, sondern zwei ganze Cookies im Glas. Sie werden immer mehr werden. Doppelt so viel Cookies, doppelt so viel Sicherheit, dass man fähig ist, seine Ziele zu erreichen.

So tastet man sich heran. 

Meine Erfahrung mit Studium und Bequemlichkeit

Mein Problem ist nicht zwingend, dass ich zu scheitern vermute. 

Es entspricht eher meiner Grundüberzeugung, dass ich alles schaffen kann, was ich in Angriff nehme. Das denke ich nicht nur von mir. Ich glaube, dass jeder so gut wie alles erreichen kann, was er sich vornimmt. 

Was es dazu braucht? Gewisse Fähigkeiten, durchaus. 

Doch mindestens genauso entscheidend ist etwas, das man Disziplin, Wille, Anstrengung, Motivation, Ansporn oder Zwang nennen kann. Einen Antrieb. Der richtige Antrieb bestimmt über Gelingen  oder Scheitern unserer Mission. 

Ich kann von mir sagen, dass in meinem bisherigen Studium immer einer der genannten Antriebe vorherrschend war. Irgendwas hat mich immer gezogen. Mal eher Zwang, als Drang, mal eher Disziplin als Motivation. Immer verbunden mit mehr oder weniger Anstrengung. 

Warum aber bin auch ich einer gewissen Bequemlichkeit verfallen? Wenn der Antrieb doch da war?

Es wäre schlichtweg falsch zu behaupten, ich hätte seit Anbeginn des Studiums nie Gelegenheit gehabt, Gewohnheiten zu ändern und/oder gewisse Projekte in die Tat umzusetzen.

Mit Sicherheit war da auch häufig eine gewisse Erschöpfung, weil Studium, Arbeit, Ehrenamt etc. durchaus schaffen können. Je mehr Antrieb sie forderten, desto weniger würde für anderes übrig bleiben. Wobei es natürlich zum Schicksal einer Stipendiatin gehört, neben dem Studium noch zusätzliche Leistungen vorweisen können zu müssen. Weil das sowieso mein Bestreben war, hat mich das nie sonderlich gestört. Doch es sei mit einkalkuliert, bei der Ressourcen-  bzw. Antriebsaufteilung.

Also gut. Genannte  Leistungen fordern also ihren Tribut. Dafür braucht es nicht viel Vorstellungskraft.

Doch die Wahrheit ist, irgendwann kann es auch in das Gegenteil umschlagen. Es mag den ein oder anderen womöglich überraschen, doch ab einem gewissen Punkt scheint  Arbeiten, Lernen und Leisten  leichter, als sich mit anderem auseinanderzusetzen. Sich selbst beispielsweise.

Nach dem anstrengenden Semesterende, in den wenigen Durchschnauftagen vor der nächsten Portion Pflegepraktikum, ist man nicht nur befreit von der stressigen Prüfungsphase. Man ist womöglich auch ein wenig hilflos. 

,,Soll ich jetzt in zwei Wochen neue Hobbys erfinden?“, hatte mich eine Freundin gefragt. ,,Mal schnell wieder Sozialleben hochfahren. Obwohl ich gerade so fertig bin, dass ich am  liebsten ein paar Tage mit Serien im Bett bleiben würde? Seufz.“

Dennoch hat sie hat sich nur wenige Tage danach neue Sportmontur angeschafft.

Ob besagte Montur sonderlich viel genutzt wurde, darüber lässt sich streiten. 

,,Ich habe schon viel zu lange neben mir selbst her gelebt.“, hatte eine andere Kommilitonin gesagt, bevor sie sich endgültig dazu entschloss, das Physikum zu verschieben. 

Zugegebenermaßen, war ich zunächst etwas sprachlos, als sie das sagte. 

Weil es das so gut auf den Punkt trifft.  Ich muss mich dem wohl anschließen. 

Und plötzlich fällt alles weg. Druck. Zwang. Es werden vorerst keine Leistungen von mir verlangt. Zeit genug, um in Angriff zu nehmen, was ich schon länger in Angriff nehmen wollte. 

Sicherlich war es mein erster Impuls, mir die freie Zeit einfach mit Arbeit voll zu laden.

Doch ich widerstand, weil ich wusste, dass ich damit nur eine wichtige Gelegenheit versäumen würde. 

Stattdessen nahm ich mir Schubladen und unausgeräumte Kartons vor. Ich bin während dem Studium umgezogen und womöglich nie ganz in der neuen Wohnung angekommen.

Was folgt ist ein Wohnungsputz der Extraklasse. Karteikarteninvasion in jedem Zimmer. Hier und da einen Klausurenbogen, den ich aufbewahrt habe. Ein verschollener Kittelgutschein taucht auf. Verwendung habe ich nun keine mehr für ihn. 

Und während ich endlich dazu komme mein Bücherregal zu zu sortieren, so scheint mir, begegne ich mir selbst wieder. 

,,Man räumt beim Wohnungsputz immer ein Stück weit sich selbst auf.“, pflege ich stets zu sagen. Es ist eine Tätigkeit, derer ich sonst nicht so viel Zeit widmen könnte, ohne das Gefühl zu haben, die Zeit effektiver nutzen zu können. Ein Wohnungsputz gegen ein Lehrbuchkapitel.

Schade, wenn man diese Einstellung entwickelt. Weil die Abwägung letzten Endes zu Lasten der ,,Me-time” geht. Und schon investiert man zu wenig Zeit mit/für sich selbst. Dennoch ist es eine Tendenz, derer viele verfallen, wenn der Zeitplan wieder enger getaktet ist. Genau wie die Tendenz, zu wenig zu schlafen. Man ist sich dessen bewusst, dass es besser wäre, wenn man anders verfahren würde, verhält sich aber nicht danach.

Vielleicht handhabe ich es in Zukunft ja doch anders. Wer weiß.

Vernünftig wäre es. Und der Selbstentfremdung wirkt es allemal entgegen.

Ein offener Blickwinkel?

Neben der Auseinandersetzung mit mir selbst fehlte wohl nur noch die mit meiner Umwelt. 

Mir stellte sich die Frage, ob ich mich überhaupt mit ihr auseinandersetzen möchte.

Jeder, der in den letzten beiden Jahren aktiv die Nachrichten verfolgt hat, wird wissen, worüber ich spreche.  

,,Sag mal, geht eigentlich gerade die Welt unter?”, ich blicke mein Gegenüber an. Wir sitzen am Tisch, zwei Tassen Tee und ein Physiologiebuch zwischen uns. 

,,Gewissermaßen, ja.”

Ich habe ein Lächeln auf dem Gesicht. Ein hilfloses Lächeln, weil die Gegenwart so frustrierend ist. Von der Zukunft braucht man gar nicht erst anzufangen. 

Klimawandel? Keiner, der ernst genommen werden möchte, nennt es noch so. Klimakatastrophe, wohl eher.

Dann die Inflation

Darüber sprechen die Nachrichten.

Und die sprechen bei weitem nicht über alles. 

Probleme, die unsere Gesellschaft aufweist, über die man nicht spricht. Weil sie fester Bestandteil von unserem Alltag sind, begegnen wir ihnen mit einem Schulterzucken.

Man kann sich ja nicht alles aufbürden. Geht einfach nicht.

Und doch kann man die Probleme nicht gänzlich ausblenden.

In Paris bin ich über so viel Armut gestiegen. Wortwörtlich. Nicht selten schliefen sie an Straßenkreuzungen, Ampeln und Fassadenecken. 

Ich muss nicht zum Ehrenamt gehen, um zu sehen, dass das Sozialsystem Lücken aufweist. 

Im Krankenhaus habe ich Menschen getroffen, die ein Lied davon singen konnten. 

,,Wer schaut schon nach uns? Nachbarschaftshilfe? Haushaltshilfe? Pflegeheim?”, hat mich eine ältere Dame einmal gefragt, als ich von ihr wissen wollte, wie sie daheim klar käme.

Es ist nicht so einfach. 

Kosten. Ausgaben. Einnahmen. Gewinn. Investitionen. Soll an Haben.

Im Gesundheitssystem zirkuliert eine enorme Menge Geld.

Manche wollen mehr als einen Happen davon abhaben.

Der Pharmaindustrie unterstellt man das beispielsweise. Versicherungen ebenso.

Es ist ungerechtfertigt zu sagen, niemand hätte seinen Happen verdient.

Manche haben ihn sich hart erarbeitet. 

Andere verdienen ihn deshalb, weil eine Investition in Gesundheit und Forschung letzten Endes auch eine Investition ist, die mit einem gewissen Risiko verbunden ist. 

Manche tragen mehr, manche weniger Risiko. Verantwortung lastet auf ihrer aller Schultern. Ob sie wollen oder nicht. 

Schließlich machen die Agonisten das Gesundheitssystem zu dem, was es ist. Undeniable.

,,Klar macht unsere Abteilung viel Geld. Die Ärzte gehen hier ganz offen damit um. Aber weißt du was, Audrey? Wir müssen auch mehr Geld verdienen. Damit es andere Abteilungen nicht müssen. Damit die Pädiatrie so arbeiten kann, wie sie es tut. Nicht jede Abteilung kann dem Druck, Einnahmen zu erzielen, standhalten. Und viel wichtiger noch: Nicht jede Abteilung darf in eine solche Situation kommen. Sonst bleiben am Ende doch wichtige Dinge auf der Strecke. Die Qualität der Behandlung, beispielsweise. Ich sage nicht, dass es gut so ist. Aber so sieht die Lage gerade aus.”

Ein hilfloses Lächeln meinerseits für die Ansprache des jungen Assistenzarztes. 

,,Ressourcenknappheit. Es ist längst keine Frage der Ressourcenverteilung mehr. Aussterben. Sinkende Biodiversität. Geht unsere Spezies gerade zugrunde? Womöglich.”

Zurück zum Küchentisch und den zwei Teetassen.

Weil in meiner Wohnung ein zentraler Regler repariert werden musste, hatte ich einen Abend und eine Nacht kein fließendes Wasser mehr. Gar keines. Ich verzweifelte schier.

,,Soll ich jetzt am Brunnen meine Flasche auffüllen, um mir die Zähne putzen zu können?”, fragte ich meine Freunde. Ich fühlte mich hilflos. ,,Die Flasche auffüllen, das mache ich doch für Leute beim Ehrenamt. Ich kann nichts dagegen machen, das fühlt sich wie ein Existenztiefpunkt an.”

Klar drückte ich mich übermäßig dramatisch aus. Aber ich darf zu meiner Verteidigung anführen, dass ich müde und dehydriert nach Hause kam, als ich von der Situation überrascht wurde. Hinzu kommt, dass ich nicht wusste, von welcher Dauer der Zustand sein würde. 

Bereits am nächsten Morgen würde die Situation behoben sein. 

Währenddessen rationieren die Einwohner Italiens seit Wochen Wasser. Ab Juli wurde das Trinkwasser immer strenger eingeteilt. Wer Wasser verschwendet, wird mit Strafen von bis zu 500 Euro belegt. 

Ich bin mir meiner Privilegien und der Harmlosigkeit meiner vorübergehenden Wasserproblematik durchaus bewusst. 

,,Geht unsere Spezies gerade zugrunde? Womöglich. Die Auswirkungen vom Krieg werden wir jedenfalls noch zu spüren bekommen. So richtig.”

Während ich den Worten meines Kumpels lausche, fahre ich mit den Fingerspitzen den Rand des Physiologiebuches nach.

. . .

Kann man es mir verübeln, dass ich meine Nase manchmal lieber in Lehrbücher stecken würde, als mich mit meiner Umwelt auseinanderzusetzen?


Autorin:

Audrey

Coucou, mein Name ist Audrey und ich bin eine aufgeweckte Medizinstudentin aus Freiburg!

Derzeit befinde ich mich ich im vierten Fachsemester Humanmedizin der Albert-Ludwigs-Universität. Ich bin unternehmungslustig, neugierig und nehme mich selbst meistens nicht allzu ernst. Hier schreibe ich ehrlich und ungeschönt über das Medizinstudium, das Studentenleben und so manches anderes.

Mach dir doch einfach dein eigenes Bild. Bis dann!

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